Ursache und Wirkung

Die Unterscheidung von Ursache und Wirkung geht innerhalb des Verstandes vor sich. In der Wirklichkeit geht die Ursache in die Wirkung über, ohne daß zwischen beiden eine reale Grenze liegt. Wer bei isolierten Begriffen stehen bleibt, dem fallen Ursache und Wirkung auseinander. Wer in das Wesen der Erscheinung dringt und die Ideen aus ihnen herausholt, für den verschwindet die Trennungslinie wieder. [1]

Damit in der Welt der Erscheinungen, in der leblosen Welt, die wir zunächst um uns haben, eine Wirkung auf eine Ursache folge, ist stets notwendig, daß dieser Ursache etwas entgegenkommt. Und ohne daß etwas der Ursache entgegenkommt, ist niemals von dem Folgen einer Wirkung auf eine Ursache zu sprechen. [2]

Alle Philosophie hat das Eigentümliche, daß sie am Gedankenfaden fortgeht, ein Glied aus dem anderen entwickelt, also gleichsam in dem Vorderen schon das Nachfolgende sucht. So haben sie recht als Philosophien. Aber man kommt dabei niemals auf dasjenige Verhältnis, welches sich ergibt, wenn man berücksichtigt, daß die Ursache gar nicht zu verursachen braucht. Die Ursache kann ihrem Wesen nach, in ihrem Wesen dasselbe sein, ob sie als Ursache etwas verursacht oder nicht. Das ändert nichts in dem Wesen der Ursache. Und dieses Bedeutungsvolle ist uns hingestellt in dem Symbolum von Gottvater und Gottsohn: daß der Christus hinzukommt als eine freie Schöpfung zu dem Vatergott, als eine Schöpfung, die nicht unmittelbar aus ihm folgt, sondern die sich als freie Tat neben die vorhergehende Schöpfung hinstellt; die auch die Möglichkeit hätte, nicht zu sein. Der Sohn ist der Welt gegeben als eine freie Tat, durch Gnade, durch Freiheit, durch Liebe, die sich frei gibt in ihrer Schöpfung. Deshalb kann man niemals durch dieselbe Art von Wahrheit, durch die man zu dem Vatergott kommt wie die Philosophen, auch zum Sohnesgott, zu dem Christus kommen. Um zum Christus zu kommen, ist notwendig, daß man zu der philosophischen Wahrheit die Glaubenswahrheit hinzufügt, oder – weil die Zeit des Glaubens immer mehr und mehr abnimmt – die andere Wahrheit hinzunimmt, die durch hellseherische Forschung kommt, die sich als eine freie Tat ebenfalls erst in der menschlichen Seele entwickeln muß. [3] (Siehe auch: Kausalnexus der verschiedenen Reiche und Welten).

Zitate:

[1]  GA 1e, Seite 372 Anm9   (Ausgabe 1921, 2640 Seiten)
[2]  GA 120, Seite 12   (Ausgabe 1975, 230 Seiten)
[3]  GA 153, Seite 140   (Ausgabe 1978, 190 Seiten)

Quellen:

GA 1e:  J.W. GOETHE: Naturwissenschaftliche Schriften. Band V (1897)
GA 120:  Die Offenbarungen des Karma (1910)
GA 153:  Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt (1914)