Zorn

Es gibt keine andere Ursache für Zorn und Haß und Antipathie als den luziferischen Einfluß. [1] Der Zorn des einen ist schnell verflogen, er mag sich nicht lange mit derartigen Gefühlen tragen, und die besseren Gefühle gewinnen in ihm die Oberhand. Ein anderer hingegen trägt seinen Zorn den ganzen Tag mit sich herum, er findet nicht die Elastizität, ihn abzuschütteln. Der erste Mensch, der seine Erregungen schnell bekämpft, wird ein seelisch gesunder Mensch bleiben, er wird vielleicht ein hohes Alter erreichen. Der andere, der bei jeder Nichtigkeit in Zorn gerät und lange diesen Zorn mit sich herumträgt, wird früh altern. Die steten andauernden Erregungen werden an seinem Körper zehren. [2] Der Zorn gehört zu demjenigen, was in der Empfindungsseele auflebt, in der das Ich noch dumpf darinnen brütet. [3] Beide Seiten des Ich werden durch den Zorn zur Entwickelung gebracht. Der Zorn hat die Mission, Selbsteigenheit in uns entstehen zu lassen, und zu gleicher Zeit wird diese Selbsteigenheit in Selbstlosigkeit umgewandelt. Der Zorn, der in die Seele sich hineinfrißt, ist ein Gift, das heißt etwas, was dämpfend für die Selbsteigenheit des Ich wirkt. So ist der Zorn in der Tat etwas, was nach diesen zwei Seiten der menschlichen Erziehung eine Mission hat, und wir sehen, wie er der Vorbote unserer Selbständigkeit und Selbstlosigkeit wird, solange das Ich nicht selber eingreifen kann in seine eigene Erziehung. Wir würden zerfließen, wenn alles um uns her uns gleichgültig bleiben würde, wenn wir noch nicht ein gelassenes Urteil fällen können. Wir würden nicht selbstlos werden, sondern im schlechten Sinne unselbständig, ohne Ichheit, wenn nicht, bevor wir unser Ich zum klaren lichtvollen Urteil herauf entwickelt haben, wir uns selbständig machen können durch den Zorn, da wo die Außenwelt unserem eigenen Innern nicht angemessen ist. Überwundener Zorn, geläuterter Zorn wandelt sich in Liebe und Milde. [4]

Bei zornmütigen Menschen sondert sich Galle ab in abnormem Maße. Und wenn er in diesem Zustand verbleibt, wird er zuletzt die Gelbsucht bekommen. Während im Stoffwechselorganismus die Galle abgesondert wird, geschieht immer im Kopforganismus ein polarisch entgegengesetzter dazugehöriger Vorgang. Da findet eine Aufnahme einer aus dem übrigen Organismus zubereiteten milchsaftähnlichen Flüssigkeit statt. Allerdings, wenn die Zornanwandlung vorüber ist, dann fühlt er so etwas, wie wenn sein Kopf zerspringen würde. Es zeigt sich, wenn der Zorn im Abfluten ist, daß er durch dasjenige, was sich in seinem Kopf ansammelte, ganz blau wird. [5] Man kann so zornig werden, besonders, wenn man schnell zornig wird, daß man in sich durch seinen Zorn überflüssig viel Galle absondert, und eigentlich zunächst viel Zyan absondert. Es kommt eine furchtbare Blutvergiftung durch den Zorn. [6]

Zitate:

[1]  GA 162, Seite 269   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[2]  GA 125, Seite 66   (Ausgabe 1973, 278 Seiten)
[3]  GA 58, Seite 64   (Ausgabe 1984, 352 Seiten)
[4]  GA 58, Seite 68f   (Ausgabe 1984, 352 Seiten)
[5]  GA 303, Seite 107   (Ausgabe 1978, 368 Seiten)
[6]  GA 351, Seite 50   (Ausgabe 1966, 270 Seiten)

Quellen:

GA 58:  Metamorphosen des Seelenlebens – Pfade der Seelenerlebnisse. Erster Teil (1909/1910)
GA 125:  Wege und Ziele des geistigen Menschen. Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1910)
GA 162:  Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915)
GA 303:  Die gesunde Entwickelung des Menschenwesens. Eine Einführung in die anthroposophische Pädagogik und Didaktik (1921/1922)
GA 351:  Mensch und Welt. Das Wirken des Geistes in der Natur. Über das Wesen der Bienen (1923)