Wissen

Im Grunde ist alles Wissen, das höchste wie das niedrigste, überhaupt das Ergebnis von Erfahrungen; es ist auf dem Wege des Probierens, der Erfahrung entstanden. Erst seit Aristoteles gibt es eine Wissenschaft der Logik, der Lehre vom Denken. Daraus muß man schließen, daß das richtige Denken auch erst entstanden ist. Und so ist es auch: das Denken mußte sich erst entwickeln, und das richtige Denken, die Logik, ist auch erst im Laufe der Zeit aus Grundbeobachtungen des falschen Denkens entstanden. Das Wissen ist etwas, was sich die Menschen in vielen Inkarnationen erworben haben. [1] In vieler Beziehung konnte dasjenige Wissen, das von Plato oder Aristoteles erreicht worden ist, in der späteren Zeit gar nicht überholt werden, denn es war für die Intellektualität der Menschheit damit in gewisser Beziehung ein Höchstes herangekommen. [2]

Bis zum Untergang der uralt-indischen Kulturperiode war es wirklich so, daß das Wissen, welches die Menschheit wie eine Erbschaft erhalten hatte, immer weiter und weiter wuchs. Das war aber im wesentlichen mit dem 1. nachatlantischen Zeitraum abgeschlossen, und man konnte nach der indischen Zeit kaum irgend etwas Neues herausbringen aus der menschlichen Natur, was nicht schon dagewesen wäre. Also eine Vermehrung des Wissens war nur in dem ersten Zeitraum möglich; dann hörte das auf. Die altindische Kulturperiode läßt sich wirklich vergleichen mit dem ersten Lebensabschnitt des Menschen, mit der Zeit von der Geburt bis zum 7. Jahre, wo sich alles an Formen herausbildet, während alles Spätere nur ein Wachstum innerhalb der festgestellten Formen ist. So war es mit dem Geistigen in dem ersten nachatlantischen Zeitraum. [3]

In alten Mysterienschulen hat man drei Arten des Wissens unterschieden: Erstens jenes Wissen, das da kommt aus dem physischen Leben des Menschen, das gewissermaßen aufsteigt aus dem physischen Miterleben der Welt, man könnte sagen: das physische Wissen; zweitens das intellektuelle Wissen, jenes Wissen, das man selber bildet, hauptsächlich in der Mathematik, jenes Wissen, in dem man drinnenlebt, das intellektuelle Wissen; drittens das geistige Wissen, dasjenige Wissen, das nicht aus dem Physischen, sondern aus dem Geistigen kommt. [4] Das Wissen, das man sich heute gewöhnlich vorstellt, das geht nämlich nicht sehr tief in den Menschen hinein, das ist eigentlich wirklich nur im Kopfe vorhanden, während jedes imaginative Wissen zu gleicher Zeit das Muskelsystem des Menschen angreift. Erlebte Gedanken erlebt man mit dem Knochensystem, mit seinem ganzen Menschen, namentlich mit seinem ganzen eigentlichen erdenfesten Menschen. Ich führe das an, damit Sie sehen, daß schon bei dem gewöhnlichen Gedanken etwas auftritt, bei dem der ganze Mensch ergriffen wird. Geht man von dem Gedanken zur Imagination über, so erlebt man seine Imagination im Muskelsystem. Die Inspiration erlebt man, indem man innerlich mit seinen eigenen Organen miterlebt. Unter Umständen werden die wunderbarsten Inspirationen mit den Nieren erlebt oder mit andern niederen Organen. Also dasjenige, was höhere Erkenntnis ist, das nimmt wirklich den ganzen Menschen in Anspruch; und derjenige bekommt keinen Eindruck von Imaginationen und Inspirationen, der nicht weiß, daß Imaginieren eine Arbeit ist, die dem physischen Arbeiten ganz gleich kommt, weil sie die Muskeln anstrengt, so daß ein wirkliches Imaginieren ist wie ein wirkliches physisches Arbeiten. [5] Alle Begriffe, die man sich aneignet aus der Geisteswissenschaft, sollte man sich nicht aneignen wie ein gewöhnliches Wissen, (denn an sich) ist Wissen überhaupt nichts besonders Wertvolles. Erst das ist wertvoll, was wir durch das Wissen werden. Das gilt auch für die Erziehung. [6]

Zitate:

[1]  GA 95, Seite 71   (Ausgabe 1978, 164 Seiten)
[2]  GA 148, Seite 28   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[3]  GA 124, Seite 54f   (Ausgabe 1963, 254 Seiten)
[4]  GA 198, Seite 27   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[5]  GA 316, Seite 113ff   (Ausgabe 1980, 246 Seiten)
[6]  GA 191, Seite 63   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)

Quellen:

GA 95:  Vor dem Tore der Theosophie (1906)
GA 124:  Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums (1910/1911)
GA 148:  Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium (1913/1914)
GA 191:  Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919)
GA 198:  Heilfaktoren für den sozialen Organismus (1920)
GA 316:  Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst (1924)