Weltenwort

Was man als Grundton der Gestirnbewegungen im Weltenall vernehmen kann, nennt man die Pythagoreische ‘Sphärenmusik. Diesen Grundakkord der Sternenbahnen und des Weltenalls, diesen Ton bezeichnet und meint der Schreiber des Johannes-Evangeliums, wenn er vom Weltenwort (Logos) spricht. [1]

Wenn man in die geistige Welt eintritt, dann erinnert nichts mehr an die physische Welt, sondern da lebt man sich ein in eine Welt von Gedankenlebewesen. In dieser geistigen Welt findet man das, von dem man in der physisch-sinnlichen Welt, wenn man denkt, nur etwas wie Schattenbilder, wie Gedankenschatten hat: die Gedankensubstanz, aus der die Wesen bestehen, in die man sich da hineinlebt. Wie (die Wesen) der physisch-sinnlichen Welt aus Fleisch und Blut bestehen, so bestehen diese Wesen in der geistigen Welt aus Gedankensubstanz; sie sind Gedanken, lautere Gedanken, bloße Gedanken, aber lebendige Gedanken mit Innenwesenheit, sie sind Gedankenlebewesen. Daher können diese Gedankenlebewesen, in die man sich hineinlebt, auch nicht so Taten verrichten wie mit physischen Händen. Das, was die Wesen an Taten verrichten, was das Verhältnis des einen zum anderen Wesen bewirkt, das läßt sich für die geistige Welt nur vergleichen mit dem, was in der Sinneswelt als schwache Nachbilder davon existiert, mit der Verkörperung der Gedanken im Sprechen. Man lebt sich in die geistige Welt hinein, erlebt Gedankenlebewesen, und alles, was sie tun, was sie sind, wie sie aufeinander wirken, bildet ein Geistergespräch. Ein Geist spricht zum anderen, und eine Gedankensprache wird gesprochen in diesem Geisterlande, dem Devachan. Aber diese Gedankensprache ist nicht bloß eine Sprache, sondern sie ist in ihrer Gesamtheit das, was die Taten der geistigen Welt darstellt. Indem diese Wesen sprechen, handeln, tun, agieren sie. Und alle okkulte Wahrnehmung, alles das, was die Eingeweihten aller Zeiten für die Menschheit geleistet haben, erschaute auf einem gewissen Gebiete dasjenige, was dieses Geistergespräch, das zugleich Geister-Tun ist, bedeutet. Und mit einem charakteristischen Ausdruck wurde das genannt das Weltenwort. Und der Zusammenhang der Wesenheiten ist das vielstimmige, vieltönige, vieltatenreiche Weltenwort, in das man sich selber mit seiner eigenen seelischen Wesenheit – selber Weltenwort – tönend hineinlebt, so daß man selber Taten innerhalb der geistigen Welt verrichtet. Der Ausdruck Weltenwort, der durch alle Zeiten und Völker geht, drückt durchaus einen wahren Tatbestand des Devachan aus. [2]

Man empfand wirklich in der Sprach-Gestaltung, in der bildenden Gestaltung des Wortes, das Weben eines Geistigen, das man miterlebt im Sprechen. Man erlebte, daß in den Lauten Götter leben. Wenn Sie diese 32 Laute nehmen, dann werden Sie sich leicht ausrechnen können, daß dabei etwa 24 Laute auf die Konsonanten und etwa sieben auf die Vokale kommen – natürlich sind die Dinge immer approximativ –, und Sie können jetzt im Sinne des Anfanges des Johannes-Evangeliums «Im Urbeginne war das Wort» ein Licht fallen lassen auf jenes Bild, das ja auch als apokalyptisches Bild gedacht werden kann: Das Alpha und das Omega ist umgeben von den sieben Engeln – den Vokalen – und von den 24 Ältesten – den Konsonanten. Und so empfand man auch, daß das Geheimnis des Weltenalls ganz in dem webte und lebte – mit der Bedeutung, die ich schon auseinandergesetzt habe –, was man in der heiligen Sprache des Kultus intonierte. Und man fühlte im Zelebrieren des Kultus die mächtige Anwesenheit desjenigen, was von dem Welteninhalt in diesem symbolischen Bilde war. Überhaupt muß wiederum von der Menschheit gefühlt werden, wo gerade von der Mysterienweisheit die Götter gesucht worden sind. Sie sind nicht in einem so Fernen, Transzendenten gesucht worden, wie man sich das heute vorstellt. Ihre Verleiblichung hat man in so etwas gesucht wie in den Lauten; und wenn man vom «Weltenwort» gesprochen hat, so hat man eben von demjenigen gesprochen, was wirklich durch die Welt webt und an dem der Mensch mit seiner Sprache teilnimmt. [3]

Zitate:

[1]  GA 94, Seite 235   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[2]  GA 147, Seite 81f   (Ausgabe 1969, 168 Seiten)
[3]  GA 346, Seite 88f   (Ausgabe 1995, 343 Seiten)

Quellen:

GA 94:  Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906)
GA 147:  Die Geheimnisse der Schwelle (1913)
GA 346:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, V. Apokalypse und Priesterwirken (1924)