Tat tvam asi

Durch Seelenübungen bringt man es nun dahin, die Nerven so stark anzuspannen, daß deren Tätigkeit sich nicht mehr hineinerstreckt bis ins Blut, sondern daß diese Tätigkeit wie in den Nerv selber zurückgeworfen wird. Weil nun das Blut das Werkzeug unseres Ich ist, fühlt sich dann ein Mensch, welcher durch starke Empfindungs- und Gedankenkonzentration gleichsam sein Nervensystem freige-macht hat vom Blute, wie entfremdet seiner eigenen gewöhnlichen Wesenheit, wie herausgehoben aus ihr, er fühlt sich gleichsam ihr gegenüberstehend, so daß er zu dieser seiner gewöhnlichen Wesenheit nicht mehr sagen kann: das bin ich –, sondern sagen kann: das bist du. Er tritt also sich selbst so gegenüber wie einer fremden, in der physischen Welt lebenden Persönlichkeit. Wenn wir einmal ein wenig auf den Lebenszustand eines solchen, in einer gewissen Art hellsichtig gewordenen Menschen eingehen, so müssen wir sagen: Ein solcher fühlt sich so, wie wenn eine höhere Wesenheit in sein Seelenleben hineinragen würde. – Es ist dies ein ganz anderes Gefühl, als man es hat, wenn man im normalen Lebenszustand der Außenwelt gegenübersteht. Im gewöhnlichen Leben fühlt man sich den Dingen und Wesenheiten der äußeren Welt, Tieren, Pflanzen und so weiter, gegenüber fremd, man fühlt sich als ein Wesen neben ihnen oder außerhalb ihrer stehend. Man weiß ganz genau, wenn man eine Blume vor sich hat: Die Blume ist dort, und ich bin hier. – Anders ist das, wenn man auf die gekennzeichnete Art sich aus seinem subjektiven Ich heraushebt, wenn man durch Losreißen seines Nervensystems vom Blutsystem in die geistige Welt hinaufsteigt. Dann fühlt man nicht mehr: da ist das fremde Wesen, das uns gegenübertritt, und hier sind wir –, sondern dann ist es so, wie wenn das andere Wesen in uns eindringen würde und wir uns mit ihm eins fühlten. So darf man sagen: Der hellsichtig werdende Mensch beginnt bei fortgeschrittener Beobachtung die geistige Welt kennenzulernen, jene geistige Welt, mit der der Mensch in steter Verbindung steht und die ja auch im gewöhnlichen Leben durch unser Nervensystem auf dem Umwege durch die Sinneseindrücke zu uns kommt. Diese geistige Welt also, von welcher der Mensch im normalen Bewußtseinszustand zunächst nichts weiß, ist es, die sich dann einschreibt in unsere Bluttafel und dadurch in unser individuelles Ich. Wir dürfen nämlich sagen: Alle dem, was uns äußerlich in der Sinneswelt umgibt, liegt eine geistige Welt zugrunde, die wir nur wie durch einen Schleier sehen, der durch die Sinneseindrücke gewoben wird. Im normalen Bewußtsein sehen wir diese geistige Welt nicht, über die der Horizont des individuellen Ich einen Schleier ausspannt. In dem Augenblick aber, wo wir von dem Ich frei werden, erlöschen auch die gewöhnlichen Sinneseindrücke, die haben wir dann nicht. Wir leben uns hinauf in eine geistige Welt, und das ist dieselbe geistige Welt, die eigentlich hinter den Sinneseindrücken ist, mit der wir eins werden, wenn wir unser Nervensystem herausheben aus unserem gewöhnlichen Blutorganismus. [1]

In der indischen Vedantaphilosophie wird besonders geübt ein Spruch, den sich die Mystiker immer wieder und wieder sagten. Dieser Spruch wird in den entsprechenden Sprachen überall geübt, und dieser Spruch heißt: Das bist du. – (in Sanskrit: tat tvam asi).Wenn der Mystiker sich das immer und immer wieder sagt, so meint er damit, daß der Mensch wahrhaft nicht bloß das ist, was in seiner Haut physisch eingeschlossen ist. Der Mensch könnte nicht als Einzelwesen im Universum bestehen; er hängt zusammen mit Kräften und Daseinsstufen, die außerhalb seines physischen Leibes liegen, so daß, wo er auch hinsieht, eine Wirklichkeit ist, zu der er gehört. Und wie er selbst von dieser Wirklichkeit abgegliedert ist, so ist jeder andere Mensch von dieser Wirklichkeit abgegliedert. Da erlebt der Mensch, daß er im Grunde genommen nichts anderes ist als ein Blatt von einem großen Baume. Und dieser Baum bedeutet die Menschheit. Wie das eine Blatt verdorrt, wenn es vom Baume abfällt, so müßte der einzelne Mensch zugrunde gehen, wenn er sich trennen wollte von dem Baume der Menschheit. Aber das kann er ja nicht! Der physische Mensch weiß das nur nicht; auf dieser Ebene wird es ihm aber Wirklichkeit. [2]

Um aber jene Eigenartigkeit des Bewußtseins zu entwickeln, die der Mensch auf der Erde entwickelt, dazu muß ein Wesen auf diese Erde heruntersteigen und durch eine Anzahl von Inkarnationen in dichter Materie verkörpert werden. Mögen daher, so sagte sich das indische Bewußtsein, diese geistigen Wesenheiten, in deren Welt ich hineinschaue, unendlich höhere Vollkommenheiten haben als die Menschen, die auf der Erde stehen: eines haben sie nicht in ihrer Welt, denn dazu war die Erdenwelt da, um es einer Wesensart, dem Menschen zu geben; eines haben sie nicht: das menschliche Ich-Bewußtsein. So zu sich «Ich» zu sagen, wie es der Mensch tut, das ist nicht heimisch in diesen Welten, in die ich da hineinsehe. Ich bin selbst aus dieser Welt heraus; es lebt alles, was in dieser geistigen Welt da draußen lebt, auch in mir, nur summiert es sich in mir zu meinem menschlichen Ich-Bewußtsein. Daher hat es keinen Sinn, zu sagen: Da draußen in der geistigen Welt sei ein menschliches Ich-Bewußtsein. Das Wort Ich im menschlichen Sinne anzuwenden auf das, was da in diesen Welten ist, das hat keine Bedeutung, keinen Inhalt. Es kann nur ein Wort, welches ausschließt dieses Ich, angewendet werden auf all das, was sich geistig ausbreitet in der Umwelt, ein Wort, das von diesem Ich nicht berührt wird, welches man so gebraucht, daß man sagen kann: In dieser Welt ist alles, was in mir ist, aber ich darf das, was da draußen ist, nicht mit meinem Ich bezeichnen; ich muß es mit einem Wort bezeichnen, welches das Ich ausschließt. Und das indische Bewußtsein nannte das, was da draußen sich ausbreitet, das «Tat», das «Das», im Gegensatz zum «Ich». Und um auszudrücken, daß der Mensch von derselben Wesensart ist, wie dieses «Tat», wie dieses «Jenes», wie dieses «Es» – daß er nur durch sein Heruntersteigen auf die Erde sich bis zum Ich entwickelt hat –, sprach er dieses Urteil aus: Ich bin dieses «Tat» – Du bist es [Tat twam asi]. Das da draußen, das bist du selbst. – So hat der Mensch seine Beziehung zur geistigen Umwelt, zu dieser schauenden Durchdringung unserer Welt im höchsten Sinne zusammengefaßt in die Worte: Es ist, aber das da draußen, das bist du selbst. Aber es wußte diese alte indische Seele zu gleicher Zeit, daß dieselbe Wesenheit, die sich draußen ausbreitet, und die sie als «Tat» bezeichnete, auffindbar ist, wenn man in das eigene Innere hineinschaut, daß sie nur das eine Mal von außen, das andere Mal durch das Innere erscheint. Steige ich also in meine Seele hinunter, so finde ich dieselbe ursprungsgeistige Wesenheit, die ich draußen als «Tat» bezeichne. Dann aber stelle ich mich zu dem, was da drinnen in mir lebt als mein Urgrund, der verschleiert wird durch das physische Seelenleben, in richtige Beziehung, wenn ich das Urteil jetzt anders ausspreche, wenn ich sage statt: Das bist du selbst – Ich bin Brahman, Ich bin das All [Aham brahma asmi]. – Und die beiden Urteile: Das Es bin Ich und Ich bin das All, sagten im Grunde genommen, wenn man sie zusammenstellte: Schaue ich hinaus in die Welt des «Tat», so finde ich eine geistige Welt; tauche ich unter in mein eigenes Seelenerlebnis, so finde ich eine geistige Welt; und die beiden sind eins. – Das war die Grundempfindung in der ersten Epoche der nachatlantischen Geisteskultur. Ganz einheitlich empfand man die beiden Geisteswelten. [3]

Wenn der Mensch den Devachan zuerst betritt, dann hat er immer einen ganz bestimmten Anblick: das ist der Moment, in dem er das Urbild seines eigenen physischen Leibes erblickt. Da sieht er zuerst klar daliegen seinen eigenen Leib. Denn er selbst ist ja Geist. Das geschieht bei einem normal verlaufenen Erdenleben etwa dreißig Jahre nach dem Tode; und dabei hat man die Grundempfindung: Das bist du. – Aus dieser Erkenntnis heraus hat die Vedantaphilosophie das «Tat tvam asi – Das bist du», als einen grundlegenden Erkenntnissatz geprägt. Alle derartigen Ausdrücke sind tief aus dem geistigen Erkennen herausgeholt. [4]

Zitate:

[1]  GA 128, Seite 48f   (Ausgabe 1978, 186 Seiten)
[2]  GA 53, Seite 157   (Ausgabe 1981, 508 Seiten)
[3]  GA 113, Seite 111f   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[4]  GA 100, Seite 52   (Ausgabe 1981, 276 Seiten)

Quellen:

GA 53:  Ursprung und Ziel des Menschen. Grundbegriffe der Geisteswissenschaft (1904/1905)
GA 100:  Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis. Theosophie und Rosenkreuzertum – Das Johannes-Evangelium (1907)
GA 113:  Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi (1909)
GA 128:  Eine okkulte Physiologie (1911)