Selbst höheres

Der Mensch lebt in seinem physischen Leibe in der physischen Umwelt. Wenn er von ihm wegkommt, wenn er außerhalb des physischen Leibes erlebt, dann erlebt er in seinem Ätherleib und hat als Umwelt die elementarische Welt (siehe: Astralplan). Wenn er auch aus dem herauskommt, dann erlebt er im astralischen Leibe das Geistgebiet. Gegenüber diesem Erleben, diesem Erfühlen in dem Astralleibe kommt eine Begegnung zustande, welche man in der geistigen Welt (siehe: Devachan) hat, die Begegnung mit dem anderen (höheren) Selbst. Es ist das, was von Erdenleben zu Erdenleben, von Inkarnation zu Inkarnation geht. Was da von Erdenleben zu Erdenleben geht, webt sich in einer so geheimnisvollen Weise in das menschliche Wesen hinein, daß das physische Bewußtsein dieses andere Selbst gewöhnlich nicht wahrnehmen kann, denn es ist dieses andere Selbst in der geistigen Welt, trotzdem es zugleich mit dem physischen Menschen verbunden ist. Inspirierend wirkt das zweite Selbst in die Natur des Menschen. Es inspiriert das, was wir unser Karma, unser Schicksal nennen. Das ist etwas Bedeutungsvolles in der geistigen Erkenntnis, wenn man seinem anderen Selbst begegnet. Dann vergeht es einem, seine Menschheitspersönlichkeit nur innerhalb der Grenzen zu denken, innerhalb welcher man sie gewöhnlich denkt. Man dehnt sein Selbst, in das man das andere Selbst einschließen muß, über sein ganzes Schicksal aus. [1]

Das eigene höhere Selbst ist nur ein kleiner Teil von diesem großen Selbst draußen. [2] Das höhere Selbst ist in allen Menschen das gleiche, und man findet es am sichersten, wenn man sich nicht in Eitelkeit abschließt, sondern dieses höhere Selbst auf sich wirken läßt von da aus, wo es bereits in einem Menschen spricht. [3] Wenn der Mensch in der Kontemplation diese Gesinnung herangebildet hat, wenn sein Selbst über alle Dinge ausfließt, wenn er die Blume, die ihm entgegenwächst, so fühlt wie den Finger, den er sich selbst entgegenbewegt, wenn er weiß, daß die ganze Erde und die ganze Welt sein Leib ist, dann lernt er sein höheres Selbst erkennen. Allmählich empfindet er das, was man den siebenten Grad der Rosenkreuzerschulung nennt: die Gottseligkeit. [4] Das Selbst, das (wahre) Ich, lebt eigentlich außerhalb in dem, was wir «zustoßen» (des Schicksals) nennen. In dem ruht in Wahrheit unser Wille darinnen. [5] Außerhalb dieses physischen Menschen lebt gleichsam in dem unendlichen Weltenall ergossen dasjenige, was das eigentlich seelisch-geistige Wesen des Menschen ist, und im wachen Tagesleben scheint dieses geistig-seelische Wesen in das leiblich-seelische Wesen hinein. Dadurch entsteht eine Spiegelung, und diese Spiegelung ist eigentlich das, was wir als den Inhalt unseres wachen Tageslebens empfinden. Es ist unser wachendes Ich in dieser Summe von Spiegelbildern darinnen, und wir sind im Grunde genommen als Wesen auf dem physischen Plane auch nichts anderes als ein Spiegelbild unter Spiegelbildern. [6] Von unserem höheren Selbst wissen wir gar nichts durch das, was wir uns im Leben aneignen. Denn wo ist eigentlich dieses Selbst? Es ist ausgegossen in der ganzen Welt, und was in der Welt ist, ist mit unserem Selbst verbunden, und auch was in der Welt war, ist mit unserem Selbst verbunden, und nur, wenn wir die Welt kennenlernen, lernen wir das Selbst kennen. [7]

Und ob man sagt, der Mensch blickt auf zu seinem höheren Selbst, dem er immer ähnlicher werden soll, oder ob man sagt, er schaue zu seinem Engel, seinem Angelos, als zu seinem großen Vorbilde hinauf, das ist im Grunde genommen geistig ganz dasselbe. Die Aufgabe der Angeloi ist die Inkarnationen der Menschen zu leiten. [8] Die Theosophie nennt das erste Element des Geistes auch Manas. Ich habe versucht, diesen Ausdruck mit Geistselbst zu übersetzen. Es ist das höhere Selbst, das sich herauslöst aus dem, was nur auf die irdische Welt beschränkt ist. So wie nun der Gedanke erhoben werden kann in eine höhere Sphäre, so kann auch die Gefühlswelt in eine höhere Sphäre erhoben werden. (Und) dann erleben Sie die zweite Wesenheit des Geistes, die Buddhi. Ich habe ihm den Namen Lebensgeist gegeben, als der zweiten spirituellen Wesenheit des Menschen. Wenn der bloße äußere Wille, der das am meisten Unbewußte im Menschen ist, sich zur höchsten weltgesetzlichen Art erhebt, dann spricht man von dem eigentlichen Geist, von dem Geistesmenschen, oder, mit einem Sanskritwort bezeichnet, von Atma. Das sind die drei Glieder des Geistigen: Manas, Buddhi, Atma. [9] Unser höheres Selbst steht in einer übersinnlichen Welt, es lebt hinter unseren Gefühlen und Empfindungen. Daher wird im wahren Sinne dieses höhere Selbst erst erlebt durch die Entwickelung in die übersinnlichen Welten hinauf. [10]

Ist man aber in der Lage, durch Imagination, Inspiration und Intuition in diese geistige Welt einzudringen, dann findet man in ihr auch das geistige Wesen des Menschen selbst. Aber man findet das innerste Kernwesen, das im Menschen lebt, das der Mensch ist und das sich durch die körperliche Organisation nur offenbart, erst dann, wenn man sich selbst außen gegenübersteht, wenn man also aus dem eigenen Leib herausgetreten ist. [11] Die Art und Weise, wie Faust hinweggestoßen wird von dem Erdgeist, das ist die Nachbildung, wie der Mensch in seiner irdischen Gestalt von seiner eigenen Wesenheit zurückgestossen wird. [12]

Suchen wir daher unser höheres Selbst, das wie ein Funke in uns vorhanden ist, dann werden wir das Geistige in der ganzen Umwelt sehen. Das ist die große Weisheitserkenntnis, welche die Vedantaphilosophie zusammengefaßt hat in dem Spruch: Tat tvam asi – Das bist du. [13]

Jede Seele hat ihren individuellen geistigen Pfad, aber sehen wir zunächst einmal einen Augenblick davon ab. Denken wir, wie es wäre, wenn der Aufstieg einer Seele normal ideal sein könnte, wenn also alle idealsten Bedingungen erfüllt wären für das Überschreiten der Schwelle, für das Hinaufsteigen in die geistigen Welten. Dann würde der Mensch, wenn er in der geistigen Welt seinem anderen Selbst begegnete, das nicht etwa so erleben können, wie man eine Fotografie von sich selbst erlebte, sondern das, was in der physisch-sinnlichen Welt und in der elementarischen Welt subjektiv ist, was da innerhalb der Seele in abstrakter Subjektivität lebt, was Seelenkräfte sind, Denken, Fühlen und Wollen, wovon man sagt, daß man sie im Innern hat, das tritt einem in der geistigen Welt objektiv entgegen, und zwar als eine Dreiheit. Das sind durchaus selbständige Gedankenlebewesen, sie sind ganz reale Gestalten; sie sind so oft in der geistigen Welt vorhanden, als es einzelne Menschenseelen gibt. Und was man in der erstarkten Seele dann haben muß, das ist das Bewußtsein, man ist die Einheit dieser drei Wesen. Das Krankhafte der Seele würde darin bestehen können, entweder, daß man sich nicht erkennt in der geistigen Welt als diese drei Wesen, daß man diese drei als Wesen betrachten würde, die nichts mit einem zu tun haben, oder daß man nicht die Einheit festhalten könnte. Aber so in seiner vollen Dreiheit dieses andere Selbst zu sehen, das erfordert eben einen normalen idealen Entwickelungsgang der Seele, wie er kaum vorhanden sein kann bei einer menschlichen Seele. [14]

Als ein Gedankenlebewesen muß man sich finden in dem Geistgebiet, von dem man sagen kann: Hier an diesem Orte sind die Worte Taten, und andere Taten müssen ihnen folgen. – Während man in der physischen Welt als Mensch in der Bewegung seiner Hand die Taten ausführt, sind Gedanken im Geistgebiete, die im Weltenwort leben, unmittelbar Taten. Was gesprochen ist, ist getan. Darauf kommt es an für die geistige Welt. Im Geistgespräche liegt zugleich das, was ein Wesen dem andern tut, was ein Wesen tut in bezug auf die um es herum liegende geistige Außenwelt. [15]

Der Weg der hellsichtigen Seele zur wahren Wesenheit des Menschen hin ist kompliziert. Man nähert sich der wahren Wesenheit des Menschen allmählich beim Aufsteigen in die geistige Welt, wenn man sich selber zum Erinnerungswesen, zum Gewesenen wird, wenn also einmal für die menschliche Seele das Bewußtsein auftaucht: Du bist jetzt nicht in der Gegenwart, du hast auch zunächst keine Zukunft vor dir, du bist das, was du gewesen bist, trägst dein Gewesenes in die Gegenwart herein. – Man wächst dann als geistiges Wesen so weiter, daß dieses Gewesene, das, was man heraufgetragen hat in die geistige Welt, was man selber geistig erlebt, ein Geistgespräch beginnt mit der umliegenden Geistwelt. Man wächst heran, indem man lauscht diesem Gespräche der eigenen Vergangenheit mit den Gedankenlebewesen der geistigen Welt. Der Mensch fühlt, du bist jetzt zwar in der geistigen Welt, du kannst dein anderes Selbst, indem du dich innerhalb deines astralischen Leibes in der geistigen Welt aufhältst, als eine geistige Wesenheit finden, aber dein ganz wahres Wesen, das, was du eigentlich bist, kannst du in dieser Welt doch nicht finden. Dasjenige, wovon dein Ich in der physischen Welt das Schattenbild ist, das findest du trotz des Aufstieges in die geistige Welt noch nicht. Da lernt man nach und nach erkennen, was man für ein bedeutsames Erlebnis noch haben muß, um das wahre Ich, um die wahre innere, noch in diesem anderen Selbst eingehüllte Wesenheit zu finden. Wir haben betont, wie man heraufdringt in die geistige Welt mit der Erinnerung, wie man zunächst keine neuen Eindrücke hat, sondern dasjenige sprechen lassen muß, was man gewesen ist. Diese Erinnerung bleibt einem. Sie bleibt einem auch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Das, was man gewesen ist, ist gerade in der geistigen Welt zunächst vorhanden. Will man aber als hellsichtig gewordene Seele zum wahren Ich vordringen, dann lernt man erkennen, daß ein Entschluß, eine geistige Tat notwendig ist. Und von dieser geistigen Tat kann gesagt werden, sie muß der starke Willensentschluß sein, das, was man heraufgetragen hat in die geistige Welt, was man als Erinnerung seiner selbst heraufgebracht hat, in sich auszutilgen, in sich zu vergessen, durch Willensentschluß auszutilgen die Erinnerung dessen, was man gewesen ist mit allen Einzelheiten. Da kommt man dann an dasjenige, was ja schattenhaft hereinleuchten kann auch schon für frühere hellsichtige und Erkenntnisstufen. Ganz richtig in wahrer Gestalt steht man am Abgrund des Daseins, wenn man den Entschluß faßt, durch freies inneres Wollen, durch energische Willenstat, sich auszulöschen, zu vergessen. Im Grunde genommen sind im Menschenwesen alle diese Dinge auch als Tatsache vorhanden; der Mensch weiß nur nichts davon. Jede Nacht muß er sich in dieser Weise unbewußt auslöschen. Aber es ist eben etwas ganz anderes, mit vollem Bewußtsein sein Erinnerungs-Ich der Vernichtung, dem Vergessen, dem Abgrund anheimzugeben, wirklich eine Weile zu stehen in der geistigen Welt am Abgrund des Seins gegenüber dem Nichts als Nichts. Es ist das erschütterndste Erlebnis, das man haben kann, und man muß mit großem Vertrauen an dieses Erlebnis gehen. Um als Nichts an den Abgrund zu gehen, ist notwendig, daß man das Vertrauen hat, daß einem aus der Welt dann das wahre Ich entgegengebracht wird. Und das geschieht. Man weiß dann, wenn man am Abgrund des Seins dieses Vergessen zustande gebracht hat: Ausgelöscht ist alles, was du bisher erlebt hast, du hast es selber ausgelöscht. Aber dir kommt aus einer Welt, die du bis jetzt nicht erkannt hast, aus einer, ich möchte sagen, übergeistigen Welt dein wahres Ich entgegen, das in dem anderen Selbst nur noch eingehüllt war. Denn das wahre Ich des Menschen gehört der übergeistigen Welt an, und der Mensch steckt mit seinem wahren Ich, von dem ein schwaches Schattenbild das physische Ich ist, in der übergeistigen Welt darinnen. So ist ein innerliches Erleben einer völlig neuen Welt am Abgrund des Seins und das Empfangen des wahren Ich aus dieser übergeistigen Welt am Abgrund des Seins. [16]

Zitate:

[1]  GA 147, Seite 109f   (Ausgabe 1969, 168 Seiten)
[2]  GA 95, Seite 134   (Ausgabe 1978, 164 Seiten)
[3]  GA 34, Seite 185   (Ausgabe 1960, 627 Seiten)
[4]  GA 96, Seite 152f   (Ausgabe 1974, 350 Seiten)
[5]  GA 64, Seite 334   (Ausgabe 1959, 495 Seiten)
[6]  GA 156, Seite 119   (Ausgabe 1967, 183 Seiten)
[7]  GA 130, Seite 257f   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[8]  GA 105, Seite 61   (Ausgabe 1983, 208 Seiten)
[9]  GA 53, Seite 212f   (Ausgabe 1981, 508 Seiten)
[10]  GA 113, Seite 53   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[11]  GA 67, Seite 336   (Ausgabe 1962, 367 Seiten)
[12]  GA 233a, Seite 61   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[13]  GA 54, Seite 77   (Ausgabe 1966, 540 Seiten)
[14]  GA 147, Seite 116   (Ausgabe 1969, 168 Seiten)
[15]  GA 147, Seite 108   (Ausgabe 1969, 168 Seiten)
[16]  GA 147, Seite 128ff   (Ausgabe 1969, 168 Seiten)

Quellen:

GA 34:  Lucifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus den Zeitschriften «Luzifer» und «Lucifer – Gnosis» 1903 – 1908 (1903-1908)
GA 53:  Ursprung und Ziel des Menschen. Grundbegriffe der Geisteswissenschaft (1904/1905)
GA 54:  Die Welträtsel und die Anthroposophie (1905/1906)
GA 64:  Aus schicksaltragender Zeit (1914/1915)
GA 67:  Das Ewige in der Menschenseele. Unsterblichkeit und Freiheit (1918)
GA 95:  Vor dem Tore der Theosophie (1906)
GA 96:  Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft. Christliche Esoterik im Lichte neuer Geist-Erkenntnis (1906/1907)
GA 105:  Welt, Erde und Mensch, deren Wesen und Entwickelung sowie ihre Spiegelung in dem Zusammenhang zwischen ägyptischem Mythos und gegenwärtiger Kultur (1908)
GA 113:  Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi (1909)
GA 130:  Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit (1911/1912)
GA 147:  Die Geheimnisse der Schwelle (1913)
GA 156:  Okkultes Lesen und okkultes Hören (1914)
GA 233a:  Mysterienstätten des Mittelalters. Rosenkreuzertum und modernes Einweihungsprinzip - Das Osterfest als ein Stück Mysteriengeschichte der Menschheit (1924)