Sein

Wir müssen uns im Denken daran gewöhnen, daß wir gewisse prinzipielle, grundlegende Begriffe, die der Menschheit heute selbstverständlich erscheinen, für die Zukunft gar nicht mehr gebrauchen können. (Beispielsweise) alles dasjenige, was wir als das Sein bezeichnen, oder was wir als das Sein den Dingen, den Wesen beilegen. In Wahrheit ist weder der alte Satz des Parmenides von dem starren Sein, noch der Satz des Heraklit von dem Werden, wahr. Es ist in der Welt Sein und Werden, aber nur: Das Werden ist lebendig, das Sein ist immer tot; und jedes Sein ist ein Leichnam des Werdens. In irgend einer Weise ist dasjenige, was in fertige Begriffe geprägt wird, immer auf ein Vergangenes bezüglich. [1]

Die Philosophen haben immer davon geredet, daß man an das Sein vom Gedanken heraus eigentlich gar nicht herankommen könne. Das ist eigentlich auch wahr; denn dasjenige, was der Mensch als das Seinsgefühl hat, woher kommt es denn eigentlich? Wenn der Mensch aus übersinnlichen Welten in sein irdisches, physisches, sinnliches Dasein kommt, da erlebt er vor allen Dingen etwas Neues, was er in den übersinnlichen Welten nicht erlebt hat, was ihn sogleich einfaßt, wenn er heruntergestiegen ist. Das ist dasjenige, was man – aber nur repräsentativ – die Schwere, die Anziehungskraft der Erde nennen kann, was man nennen kann «Gewicht haben». Nun wissen Sie: der Ausdruck «Gewicht haben» ist eigentlich nur von der wichtigsten Erscheinung der Schwere her genommen. Denn was wir zum Beispiel als Ermüdung fühlen, ist auch etwas Ähnliches wie Gewicht haben, und was wir in unseren Gliedern fühlen, wenn wir sie bewegen, ist auch etwas, was mit dem Gewicht haben verwandt ist. Aber weil das Gewicht haben das Repräsentative daraus ist, können wir sagen: Der Mensch stellt sich in die Schwere hinein. Und im Geheimen nimmt der Mensch immer von dieser Schwere etwas wahr, wenn er irgendein Ding der Erde als real bezeichnet. [2]

Was wir in uns finden können durch den Spiegelungsapparat unseres Leibes, das ist Bild von unserer Wirklichkeit. Wenn nun im Tode der physische Leib sich auflöst, lösen sich selbstverständlich auch die Bilder auf, die in uns entstehen. Dasjenige, was uns bleibt, unsere wahre Wirklichkeit, das ist im Grunde genommen das ganze Leben hindurch dem Kosmos eingefügt, und es entwirft von sich selber nur während unseres Lebens durch unsern Leib ein Spiegelbild von uns. Hier, sehen Sie, liegt jene Schwierigkeit, auf welche die Philosophen fortwährend kommen. Diesen Philosophen ist ja zunächst nichts anderes gegeben als dasjenige, was sie sich vorstellen. Aber bedenken Sie, daß aus der Vorstellung, aus dem Inhalt des Bewußtseins das Sein gerade herausgepreßt ist. Es kann nicht darinnen sein, denn was im Bewußtsein ist, ist nur Spiegelbild. Nun suchen die Philosophen das Sein durch das Bewußtsein, durch das gewöhnliche physische Bewußtsein. Sie können es nicht finden. Aber weil das Bewußtsein ganz naturgemäßerweise nur enthalten kann Bilder des Seins, kann man zu nichts anderem kommen als dazu, anzuerkennen, daß man an das Sein mit dem Bewußtsein niemals herankommen könne. [3]

Zitate:

[1]  GA 176, Seite 182f   (Ausgabe 1982, 392 Seiten)
[2]  GA 198, Seite 295f   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[3]  GA 162, Seite 31   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)

Quellen:

GA 162:  Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915)
GA 176:  Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten. Das Karma des Materialismus (1917)
GA 198:  Heilfaktoren für den sozialen Organismus (1920)