Seelenleben
► Dynamik des Seelenlebens

Sie kommen nicht anders zu einem wirklichen Begreifen des Vorstellens, als wenn Sie sich darüber klar sind, daß Sie ein Leben vor der Empfängnis durchlebt haben. Und so wie die gewöhnlichen Spiegelbilder räumlich als Spiegelbilder entstehen, so spiegelt sich Ihr Leben zwischen Tod und neuer Geburt in dem jetzigen Leben drinnen, und diese Spiegelung ist das Vorstellen. Indem die Tätigkeit, die Sie vor der Empfängnis ausgeführt haben in der geistigen Welt, zurückgeworfen wird durch Ihre Leiblichkeit, dadurch erfahren Sie das Vorstellen. Nun wollen wir uns in derselben Art nach dem Willen fragen.

Der Wille ist eigentlich für das gewöhnliche Bewußtsein etwas außerordentlich Rätselhaftes; er ist eine Crux der Psychologen, einfach aus dem Grunde, weil dem Psychologen der Wille entgegentritt als etwas sehr Reales, aber im Grunde genommen doch keinen rechten Inhalt hat. Denn wenn Sie bei den Psychologen nachsehen, welchen Inhalt sie dem Willen verleihen, dann werden Sie immer finden: solcher Inhalt rührt vom Vorstellen her. Für sich selbst hat der Wille zunächst einen eigentlichen Inhalt nicht. Was ist er aber eigentlich? Er ist nichts anderes, als schon der Keim in uns für das, was nach dem Tode in uns geistig-seelische Realität sein wird. Wir haben uns also vorzustellen: Vorstellung auf der einen Seite, die wir als Bild aufzufassen haben vom vorgeburtlichen Leben; Willen auf der anderen Seite, den wir als Keim aufzufassen haben für späteres. Der Unterschied zwischen Keim und Bild ist recht ins Auge zu fassen, denn ein Keim ist etwas Überreales, ein Bild ist etwas Unterreales. Ein Keim wird später erst zu einem Realen, trägt also der Anlage nach das spätere Reale in sich, so daß der Wille in der Tat sehr geistiger Natur ist.

Nun haben Sie in einer gewissen Weise das menschliche Seelenleben in zwei Gebiete zerteilt: in das bildhafte Vorstellen und in den keimhaften Willen; und zwischen Bild und Keim liegt eine Grenze. Diese Grenze ist das ganze Ausleben des physischen Menschen selbst, der das Vorgeburtliche zurückwirft (spiegelt), dadurch die Bilder der Vorstellung erzeugt, und der den Willen nicht sich ausleben läßt und dadurch ihn fortwährend als Keim erhält, bloß Keim sein läßt. Durch welche Kräfte, so müssen wir fragen, geschieht denn das eigentlich? Wir entwickeln, indem wir in die physische Welt herunterversetzt werden, gegen alles, was geistig ist, Antipathie, so daß wir die geistige vorgeburtliche Realität zurückstrahlen in einer uns unbewußten Antipathie und verwandeln durch sie das vorgeburtliche Element in ein bloßes Vorstellungsbild. Und mit demjenigen, was als Willensrealität nach dem Tode hinausstrahlt zu unserem Dasein, verbinden wir uns in Sympathie. Diese zwei, der Sympathie und der Antipathie, werden wir uns nicht unmittelbar bewußt, aber sie leben in uns unbewußt und sie bedeuten unser Fühlen, das fortwährend aus einem Rhythmus, aus einem Wechselspiel zwischen Sympathie und Antipathie sich zusammensetzt. [1]

Jede Seelenwissenschaft, die nur mit den Erkenntnismitteln des gewöhnlichen Bewußtseins forschen will, muß bei Wahrnehmungen angelangen, denen gegenüber sie, wenn sie sich selbst versteht, sagen muß, sie seien für dieses Bewußtsein undurchschaubar. Denn das Seelenleben läßt sich einem Knoten vergleichen, der an dem Trefforte verschiedener Fäden durch diese geschlungen ist und dessen Wesenheit nur zu durchschauen ist, wenn man die Fäden auch außerhalb desselben nach Herkunft und Zielrichtung verfolgen will. [2]

Von dem ganzen Strom des Lebens, der abfließt von der Seele, gehen fortwährend Strömungen nach den verschiedensten Wesen der astralischen Welt (siehe: Astralplan). Von all diesen einzelnen Gedanken, einzelnen Empfindungen und Gefühlen gehen die verschiedensten Strömungen aus, und sie gehen zu den verschiedensten Wesen der astralischen Welt.

Für das, was im Menschen Eigenschaften sind, Seeleninhalte, gibt es Wesenheiten in der astralischen Welt. Dadurch ist über eine große Anzahl von Menschen etwas ausgebreitet wie ein astralisches Netz. Dadurch ist aber auch jeder einzelne von uns eine Art Konglomerat von Strömungen, denn wir können jeden Menschen so ansehen, wie wenn von allen Seiten die astralischen Wesen Strömungen in seinen Körper hineinsenden. Wir alle sind ein Zusammenfluß von Strömungen, die aus der astralischen Welt herauskommen. Der Mensch konzentriert diese Strömungen in sich selber um seinen Ich-Mittelpunkt, der in seinem Selbstbewußtsein liegt. Dieses Selbstbewußtsein ist deshalb etwas so Wichtiges im Menschen, weil es wie ein Beherrscher sein muß in der inneren menschlichen Wesenheit, der die verschiedenen Strömungen, die von allen Seiten in uns einfließen, zusammenfaßt und in sich verbindet. Denn in dem Augenblicke, wo das Selbstbewußtsein nachlassen würde, könnte es eintreten, daß der Mensch sich nicht mehr als Einheit fühlte, der Mensch würde dann kein Bewußtsein mehr davon haben, daß er eine Einheit ist, sondern er würde sich fühlen, als ob er aufgeteilt wäre in alle die verschiedenen Strömungen. [3] Da würde der Mensch dahin kommen, daß er sich nicht mehr als ein Ich fühlte, als geschlossene Wesenheit, als eine Einheit in seinem Selbstbewußtsein. Wenn er sein Ich durch einen Krankheitsprozeß der Seele verlieren würde, so würde er diese Strömungen so empfinden, als wenn er nicht sich wahrnehmen würde, sondern diese einzelnen Strömungen, als wenn er in sie ausflösse. Bestimmte Irrsinnsfälle sind nur darauf zurückzuführen. Ein besonders tragischer Irrsinnsfall wird Ihnen erklärlich werden, wenn wir ihn von diesem Gesichtspunkt aus, von der astralischen Welt aus betrachten: Friedrich Nietzsche. [4] Dasjenige, was hier in der physischen Welt von Tieren und Menschen das Undurchdringlichste ist, deren innerliches Seelenleben, das wird für die Wesen der höheren Welten das Durchdringlichste (ebenso) nehmen wir teil an dem Seelenleben der höheren Welten. [5]

Zitate:

[1]  GA 293, Seite 32ff   (Ausgabe 1980, 216 Seiten)
[2]  GA 35, Seite 414   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[3]  GA 107, Seite 12ff   (Ausgabe 1973, 328 Seiten)
[4]  GA 107, Seite 16   (Ausgabe 1973, 328 Seiten)
[5]  GA 163, Seite 128f   (Ausgabe 1975, 152 Seiten)

Quellen:

GA 35:  Philosophie und Anthroposophie (1904-1923)
GA 107:  Geisteswissenschaftliche Menschenkunde (1908/1909)
GA 163:  Zufall, Notwendigkeit und Vorsehung. Imaginative Erkenntnis und Vorgänge nach dem Tode (1915)
GA 293:  Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik (1919)