Seelenleben
► Dämonische Gestaltungen im Seelenleben

Der Mensch muß gewahr werden innerlich, daß er ebenso etwas erleben müsse, wie erlebt worden ist um das Jahr 300 vor Christi Geburt die Geburt der Phantasie, so muß in unserer Zeit erlebt werden die Geburt des tätigen Verstandes. Dazumal entstand die Möglichkeit, durch Nachschaffung von äußeren Formen phantasievoll zu gestalten. Jetzt muß die Menschen ergreifen ein inneres kraftvolles Schaffen von Ideen, durch die sich jeder selber ein Bild seines eigenen Wesens macht und sich dieses vorsetzt als dasjenige, dem er nachstrebt. Selbsterkenntnis im weitesten Umfange des Wortes muß die Menschen ergreifen; aber nicht eine Selbsterkenntnis, in der man nur brütet über dasjenige, was man gestern vergessen hat, sondern eine Selbsterkenntnis, die es bringt bis zu einem Betätigen des eigenen Wesens. Und diese Selbsterkenntnis wird von der Entwickelung des Menschen, der eben zur Geburt des tätigen Verstandes aufsteigen muß, klar gefordert. Es wird so kommen, daß die Menschen in der gewöhnlichen Erinnerung, in dem gewöhnlichen Gedächtnis etwas sehr Eigentümliches finden werden. Heute (1920) geht es gerade noch an, weil man etwas grobkörnig geworden ist und die Dinge nicht bemerkt, die eigentlich schon in der Seele des Menschen vorhanden sind. Heute geht es gerade noch an, daß, wenn man zurückdenkt in seinem eigenen Leben, daß man dann aus diesem eigenen Leben, in das man nun zurückblickt, nur die Erinnerungen an die gewöhnlichen Erlebnisse kommen. Aber das ist nicht mehr rein so, sondern es kommen immer wiederum und wiederum Menschen unter uns vor, die schon etwas anderes erleben, die, wenn sie zurückdenken, was sie vor 10, 20 Jahren erlebt haben, so kommt ihnen nicht nur dasjenige herauf, was sie erlebt haben, sondern es kommt ihnen etwas herauf, was sie nicht erlebt haben, was aber aus dem Erlebten wie eine selbständige Wesenheit aufsteigt. Derjenige, der sensitiv ist für solche Sachen, der erlebt, daß bei einer Rückschau auf das Leben nicht nur diese gewöhnlichen Erlebnisse vorhanden sind, sondern er erlebt etwas, was da herausragt, das wie dämonisch aus den vergangenen Seelenerlebnissen herauskommt. Und das wird immer stärker und stärker werden. So ist es ungefähr, wie wenn man sich sagen müßte: Ja, wir haben das und das erlebt; aber nachträglich träume ich jetzt aus diesen Erlebnissen heraus Tagträume, die nachher aus diesen Erlebnissen herauskommen. Wenn die Menschen nicht lernen, auf so etwas aufmerksam zu sein, dann werden sie darüber den Verstand verlieren. Wenn aber dieser tätige Verstand Besitz ergreift von den Menschen, dann wird damit etwas anderes verbunden sein. Und man kann sagen: Heute fürchtet sich noch die Menschheit vor jener Erfahrung, die sie da machen wird. – Denn, sehen Sie, man wird den Verstand dadurch kennenlernen, daß er tätig sein wird, man wird die gepriesene Intellektualität kennenlernen, und es wird sich herausstellen, was sie eigentlich ist, diese Intellektualität, was es ist, dieses Entstehen von Bildern. Man begreift es nur, wenn man etwas ins Auge faßt: Wir können fühlen, wir können wollen, indem wir leben, aber wir können nicht, wenn wir nur lebten, auch denken. Wir können denken nur aus dem Grunde, weil wir fortwährend das Todesprinzip in uns tragen. Das ist dieses große Geheimnis der Menschen, daß gewissermaßen von den Sinnen aus fortwährend strömt durch dasjenige, was man als Nerv auffaßt, Zerstörendes in den Menschen hinein. Es ist, wie wenn der Mensch von den Sinnen aus durch die Nervenstränge mit einem sich zerbröckelnden Materiellen ausgefüllt würde. Wenn Sie sehen, wenn Sie hören, oder auch, wenn Sie nur Warmes fühlen, es ist wie ein von den Sinnen nach innen sich zerbröckelndes Materielles. Dieses sich zerbröckelnde Materielle, das muß erfaßt werden von demjenigen, was aus dem Innern des Menschen ausströmt. Es muß gewissermaßen verbrannt werden. Wenn der Mensch sich aneignen wird diesen tätigen Verstand – so wie sich angeeignet hat die Menschheit in der Griechen-, in der Römerzeit die tätige Phantasie, während die Imagination des alten atavistischen Hellsehens eine passive Phantasie war –, dann wird er in sich selber wahrnehmen das fortwährende Absterben eines Teiles seines Wesens. Das wird wichtig sein. Denn so, wie wir hineinwachsen müssen in einen Bewußtseinszustand, durch den wir das fortwährende Absterben eines Teiles unseres Wesens wahrnehmen, so hat eine alte Menschheit, die aber noch bis in die Griechenzeit hineinragte, wahrgenommen dasjenige, was im Vitalitätsprinzip des Menschen lebt, was im Willen lebt und in dem mit dem Willen zusammenhängenden Stoffwechsel lebt. Da lebt dasjenige, was das Absterbeprinzip bekämpft, was fortwährend des Menschen Absterbeprinzip lähmt. Während die Alten also von ihrer Wissenschaft, von ihrer Erkenntnis sagen konnten, daß in ihr etwas Heilendes ist, wird man in der Zukunft sagen müssen: Das, was wir aus unserem Verstand machen, das, was aus dem wird, worauf wir heute so stolz sind, das wird uns in der Zukunft zeigen, daß, wenn er allein waltet, die Menschen nach und nach in die Dekadenz, in die völlige Dekadenz verfallen würden, daß dagegen geltend gemacht werden muß ein Wissen, das wiederum entgegenstellen kann heilende Kräfte. [1]

Die gegenwärtige Menschheit glaubt, sie denkt bloß mit dem Kopfe. Das ist ein Unsinn. Man denkt und fühlt und will nicht bloß mit dem Kopfe, sondern mit dem ganzen Menschen. Arme und Beine sind ebensolche Seelenorgane wie der Kopf. Das ist eine der schlimmsten Vorurteile, daß das Seelenleben organisch einseitig dem Nervenleben zugeteilt worden ist. Nur das intellektualistische Leben ist dem Nervenleben zugeteilt. [2]

Die Materialisten mußten auftreten in einem Zeitalter, in dem das Denken nur in Bildern abgefaßt, in Bildern lebt, und Bilder sind nicht da, ohne daß ein Spiegelungsapparat abläuft, und der Spiegelungsapparat ist das Gehirn. Dieses Denken, was über den Intellekt hinausgeht, kann nur durch eine menschliche Entwickelung erreicht werden, nur dadurch, daß man sich unabhängig macht von der Leiblichkeit. Aber dasjenige Denken, das sich gerade im 19. Jahrhundert geltend gemacht hat, das muß materialistisch gedeutet werden. Das ist ganz abhängig, wenn es auch eben Bilder sind, von dem Werkzeug des menschlichen Gehirnes, und das Merkwürdige ist, daß man mit dem Materialismus gerade am meisten recht hat gegenüber dem Geistesleben dieses 19. Jahrhunderts. Dieses Geistesleben des 19. Jahrhunderts ist tatsächlich an die leibliche Materie gebunden. Aber gerade über dieses Geistesleben muß hinausgekommen werden. Über dieses Geistesleben muß der Mensch sich erheben. Er muß wiederum hineingießen lernen in die Bilder geistige Substanz. [3]

Das gewöhnliche Erleben ist nicht so, daß man das Seelische unmittelbar erlebt. Man erlebt es ja durch den physischen Leib. Es ist angepaßt diesem Erleben in dem physischen Leib. Aber das seelische Leben für sich ist anders, das ist etwas, was in fortwährendem Werden ist, in fortwährender Wandlung, in fortwährender Metamorphose, das einem entschlüpft bei diesen Metamorphosen, wenn man sich nicht jederzeit wiederum in diese Metamorphosen hineinlebt, das man nicht ertragen kann, weil es schmerzt, weil es Vergangenheit atmet. Indem es Vergangenheit aufnimmt, schmerzt es. Und dasjenige, was wir als freudvoll, lustvoll empfinden, das ist es, wovon wir gewahr werden, daß es mit uns durch die Pforte des Todes geht; das ist Zukunft. [4]

Die Seele hat ihr Alter und ihre Jugend, ja sogar ihren Tod und ihre Geburt fortwährend in sich. Die wirkliche Seelenerkenntnis kann darauf hinweisen: wenn das Wollen alt ist, dann wird es ein Denken, und das altgewordene, ja erstorbene Denken hat sich aus einem Wollen entwickelt. Man lernt so wirklich das seelische Leben kennen, lernt auch hinschauen auf die Tatsache, daß dasjenige, was sich uns in diesem Erdenleben als ein Denken enthüllt, in einem früheren Erdenleben ein Wollen war, und was in diesem Erdenleben ein Wollen, also noch etwas Junges im Seelenleben ist, das wird im späteren Erdenleben ein Denken. [5]

Zitate:

[1]  GA 198, Seite 31ff   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[2]  GA 199, Seite 185   (Ausgabe 1985, 318 Seiten)
[3]  GA 198, Seite 36   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[4]  GA 212, Seite 44ff   (Ausgabe 1978, 178 Seiten)
[5]  GA 215, Seite 68   (Ausgabe 1980, 188 Seiten)

Quellen:

GA 198:  Heilfaktoren für den sozialen Organismus (1920)
GA 199:  Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung (1920)
GA 212:  Menschliches Seelenleben und Geistesstreben im Zusammenhange mit Welt- und Erdentwickelung (1922)
GA 215:  Die Philosophie, Kosmologie und Religion in der Anthroposophie (1922)