Schwellenproblem – Verwandlungsfähigkeit

Die hellsichtig gewordene Seele muß sich gesetzmäßig bewegen können in der geistigen Welt und muß immer wieder und wiederum die Grenze überschreiten können in die physisch-sinnliche Welt herein und sich da, wenn ich mich trivial ausdrücken darf, in der richtigen, sachgemäßen Weise benehmen können. – Da die Fähigkeiten der Seele andere sein müssen für die geistige Welt und andere sind, wenn sich diese Seele bedient der physischen Sinne und des ganzen übrigen physischen Leibes, so muß die Seele in einem gewissen Maße die Beweglichkeit erobern, wenn sie hellsichtig werden will, sich in der geistigen Welt zu erfühlen, zu erleben mit den dazugehörigen Fähigkeiten, und dann, wenn sie die Grenze überschreitet, wiederum mit den entsprechenden Fähigkeiten die Sinneswelt erleben können. Diese Fähigkeit, diese Beweglichkeit, diese Verwandlungs-fähigkeit sich anzueignen, ist nun keinesfalls so ganz besonders leicht; aber es muß für eine richtige Abschätzung des Unterschiedes der geistigen von der physisch-sinnlichen Welt gerade dieses Grenzgebiet zwischen den beiden Welten scharf ins Seelenauge gefaßt werden, die Schwelle selbst genau ins Auge gefaßt werden, über welche die Seele treten muß, wenn sie aus der physisch-sinnlichen Welt in die geistige Welt eindringen will. [1]

Ganz neue Anforderungen treten an das Seelenleben heran, wenn es über die Schwelle hinweg die elementarische Welt betritt. Würde die Menschenseele mit den Gepflogenheiten, mit den Gewohnheiten der Sinneswelt in die elementarische Welt eintreten wollen, so würden zwei Tatsachen eintreten können: entweder es würde sich im Umkreis des Bewußtseins, im Blickekreis, Nebelhaftigkeit oder völlige Verfinsterung ausbreiten, oder aber es würde die andere Tatsache eintreten: die Menschenseele würde, wenn sie unvorbereitet für die Gepflogenheiten und die Anforderungen der elementarischen Welt in diese eintreten wollte, wiederum zurückgeworfen werden in die Sinneswelt. Die elementarische Welt ist eine durchaus andere als die sinnliche Welt. In der sinnlichen Welt ist die Sache so, daß, wenn Sie innerhalb dieser Welt von Wesen zu Wesen, von Vorgang zu Vorgang schreiten, Sie zwar dann diese Wesenheiten, diese Vorgänge vor sich haben, sie betrachten können, daß Sie aber vor jedem Vorgang, vor jeder Wesenheit in der Beobachtung ganz deutlich Ihre in sich geschlossene Wesenheit, Ihr persönliches Sein behalten. Sie wissen in jedem Augenblick, Sie sind derselbe, der Sie gegenüber einem anderen Vorgang, einer anderen Wesenheit gewesen sind, wenn Sie einem Neuen gegenübertreten, und Sie können sich niemals verlieren in diesem Vorgang, in dieser Wesenheit. Sie stehen ihnen gegenüber, Sie stehen außerhalb derselben und Sie wissen, wo immer Sie auch in der Sinneswelt herumschreiten, daß Sie derselbe bleiben. Das wird sogleich anders, wenn man die elementarische Welt betritt. In der elementarischen Welt ist es notwendig, daß man mit dem ganzen Innenleben seiner Seele einem Wesen, einem Vorgang sich so weit anpaßt, daß man sich mit seinem Seelenleben in dieses Wesen, in diesen Vorgang selbst verwandelt. Anders kann man nichts erkennen in der elementarischen Welt, als wenn man den Wesen so gegenübertritt, daß man innerhalb jedes Wesens ein anderer wird, und zwar in hohem Grade ähnlich wird dem Wesen und dem Vorgang selber. [2]

Das hellsichtige Bewußtsein, das von der einen Welt in die andere hinüber- und herübergeht, wirklich sich richtig den Anforderungen der entsprechenden Welt fügt und nicht beim Übertreten der Schwelle die Gepflogenheiten der einen Welt in die andere mit hinüberträgt. Erstarkung, Erkraftung des Seelenlebens gehört daher zu den auch von uns schon oft erwähnten Vorbereitungen für das Erleben der übersinnlichen Welten. Erstarkung und Erkraftung des Seelenlebens. Und vor allen Dingen müssen stark und kraftvoll werden diejenigen Erlebnisse der Seele, die man bezeichnen könnte als die höheren moralischen Erlebnisse. Erlebnisse, die sich ausdrücken in der Seelenstimmung der Charakterfestigkeit, der inneren Sicherheit und Ruhe. Innerer Mut und Charakterfestigkeit müssen vor allen Dingen in der Seele ausgebildet werden, denn durch Charakterschwäche schwächt man das ganze Seelenleben, und man kommt mit einem schwachen Seelenleben in die elementarische Welt hinein. Das darf man aber nicht, wenn man richtig und wahr in der elementarischen Welt erleben will. [3] Wenn die hellsichtig gewordene Seele immer weiter und weiter fortschreitet, dann dringt sie aus dem, was in den letzten Tagen hier die elementarische Welt genannt worden ist, weiter hinein in die eigentlich geistige Welt. Vieles von dem, was bereits angedeutet worden ist, muß in einem noch verschärften Maße beachtet werden, wenn es sich um den Aufstieg der menschlichen Seele in die eigentlich geistige Welt handelt. Innerhalb der elementarischen Welt erinnert noch manches in den Vorgängen und Dingen, welche die hellsichtig gewordene Seele in dieser elementarischen Welt um sich hat, an Eigenschaften, an Kräfte, an allerlei in der Sinneswelt. Wenn aber die Seele in die geistige Welt hinaufsteigt, dann treten ihr die Eigenschaften, die Merkmale der Vorgänge und Wesenheiten in einer ganz anderen Art entgegen, als dieses in der Sinneswelt der Fall ist. In einem viel erhöhteren Maße muß die Seele für die geistige Welt gewissermaßen sich abgewöhnen, mit den Fähigkeiten und mit dem Anschauungsvermögen, die für die Sinneswelt taugen, auskommen zu wollen. Und zu dem Beunruhigendsten gehört es ja für die menschliche Seele, gegenüberzustehen einer Welt, an die sie ganz und gar nicht gewöhnt ist, die für sie notwendig macht, daß sie alles gleichsam hinter sich läßt, was sie bisher hat erfahren, beobachten können. [4]

Zitate:

[1]  GA 147, Seite 31f   (Ausgabe 1969, 168 Seiten)
[2]  GA 147, Seite 51   (Ausgabe 1969, 168 Seiten)
[3]  GA 147, Seite 63f   (Ausgabe 1969, 168 Seiten)
[4]  GA 147, Seite 67   (Ausgabe 1969, 168 Seiten)

Quellen:

GA 147:  Die Geheimnisse der Schwelle (1913)