Schulung esoterische
► Devotion des Geistesschülers

Wenn wir nicht das tiefgründige Gefühl in uns entwickeln, daß es etwas Höheres gibt, als wir sind, werden wir auch nicht in uns die Kraft finden, uns zu einem Höheren hinaufzuentwickeln. Höhe des Geistes kann nur erklommen werden, wenn durch das Tor der Demut geschritten wird. Unsere Zivilisation neigt mehr zur Kritik, zum Richten, zum Aburteilen und wenig zur Devotion, zur hingebungsvollen Verehrung. Unsere Kinder schon kritisieren viel mehr, als sie hingebungsvoll verehren. Aber jede Kritik, jedes richtende Urteil vertreiben ebensosehr die Kräfte der Seele zur höheren Erkenntnis, wie jede hingebungsvolle Ehrfurcht sie entwickelt. Betont muß werden, daß es sich beim höheren Wissen nicht um Verehrung von Menschen, sondern um eine solche gegenüber Wahrheit und Erkenntnis handelt. [1] Der Geheimschüler muß geradezu suchen, in sich Gedanken der Devotion zu pflegen. Jeder Augenblick, in dem man sich hinsetzt, um gewahr zu werden in seinem Bewußtsein, was in einem steckt an abfälligen, richtenden, kritischen Urteilen über Welt und Leben: – jeder solche Augenblick bringt uns der höheren Erkenntnis näher. Wer in diesen Dingen Erfahrung hat, der weiß, daß in jedem solchen Augenblicke Kräfte in dem Menschen erweckt werden, die sonst schlummernd bleiben. Es werden dadurch dem Menschen die geistigen Augen geöffnet. Er fängt dadurch an, Dinge um sich herum zu sehen, die er früher nicht hat sehen können. Er fängt an zu begreifen, daß er vorher nur einen Teil der ihn umgebenden Welt gesehen hat. Der Mensch, der ihm gegenübertritt, zeigt ihm jetzt eine ganz andere Gestalt als vorher. Zwar wird er durch diese Lebensregel noch nicht imstande sein, schon das zu sehen, was zum Beispiel als die menschliche Aura beschrieben wird. [2]

Es wird dem Menschen anfangs nicht leicht, zu glauben, daß Gefühle wie Ehrerbietung, Achtung und so weiter etwas mit seiner Erkenntnis zu tun haben. Dies rührt davon her, daß man geneigt ist, die Erkenntnis als eine Fähigkeit für sich hinzustellen, die mit dem in keiner Verbindung steht, was sonst in der Seele vorgeht. Man bedenkt dabei aber nicht, daß die Seele es ist, welche erkennt. Und für die Seele sind Gefühle das, was für den Leib die Stoffe sind, welche seine Nahrung ausmachen. Für die Seele sind Verehrung, Achtung, Devotion nährende Stoffe, die sie gesund, kräftig machen; vor allem kräftig zur Tätigkeit des Erkennens. Mißachtung, Antipathie, Unterschätzung des Anerkennenswerten bewirken Lähmung und Ersterben der erkennenden Tätigkeit. Die Verehrung weckt eine sympathische Kraft in der Seele, und durch diese werden Eigenschaften der uns umgebenden Wesen von uns angezogen, die sonst verborgen bleiben. [3]

Der physischen Welt stehen wir so gegenüber, daß wir sagen: Vor unseren Sinnen breitet sich aus das Mineralreich, aus demselben hervorgehend das Pflanzenreich, das Tierreich, und dann unser eigenes Reich, das menschliche. Und innerhalb des menschlichen fühlen wir uns gewissermaßen als obenstehend in der Aufeinanderfolge dieser äußeren Reiche.

Gegenüber den geistigen Reichen fühlen wir uns untenstehend und die anderen Reiche über uns sich erhebend. Und man fühlt sich so, daß man sich in jedem Augenblick gegenüber diesen Reichen fühlt als von ihnen erhalten und im Grunde fortwährend ins Leben gerufen. Man verdankt sich diesen Reichen. Man blickt zu ihnen auf, indem man sagt: Das eigene Leben, der eigene Seeleninhalt fließt aus den willensvollen Gedanken der Wesen dieser Reiche hernieder und bildet uns fortwährend.

Dieses Gefühl des Sich-Verdankens den höheren Reichen sollte bei den Menschen ebenso lebendig entwickelt werden wie das Gefühl, sagen wir, daß man von außen Eindrücke bekommt in der physischen Wahrnehmung. Wenn diese beiden Empfindungen – die äußeren sinnlichen Dinge wirken auf uns, und dasjenige, was im Mittelpunkt unseres Wesens lebt, ist verdankt den höheren Hierarchien –, gleich lebendig in unserer Seele sind, dann ist die Seele in jenem Gleichgewicht, wo sie fortdauernd wahrnehmen kann in der rechten Weise das Zusammenwirken des Geistigen und des Physischen, das ja fortdauernd stattfindet, das aber ohne das Gleichgewicht dieser beiden charakterisierten Empfindungen eben nicht wahrgenommen werden kann. [4]

Zitate:

[1]  GA 10, Seite 20ff   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[2]  GA 10, Seite 23   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[3]  GA 10, Seite 25   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[4]  GA 175, Seite 36f   (Ausgabe 1982, 416 Seiten)

Quellen:

GA 10:  Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (1904/1905)
GA 175:  Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha. Kosmische und menschliche Metamorphose (1917)