Schmerz

Ein Leib empfindet keinen Schmerz, ebensowenig wie ein Stein. Schmerz empfindet der Astralleib mit dem Ich im physischen Leibe drinnen; außerdem gibt es ja auch seelische Schmerzen und daher hören die Schmerzen nicht auf nach dem Tode. Sie können nur nicht mehr verursacht werden durch Störungen im physischen Leibe, für die Seele aber brauchen sie dadurch nicht aufzuhören. [1] So haben wir den Schmerz im astralischen Leibe begriffen, indem wir ihn als den Ausdruck für eine Ohnmacht des Ätherleibes gegenüber dem physischen Leib zu erfassen verstehen. Ein Ätherleib, der mit seinem physischen Leib zurechtkommt, wirkt auf seinen Astralleib so zurück, daß in diesem Behagen gesundes inneres Erleben auftritt. Ein Ätherleib, der dagegen nicht mit seinem physischen Leib zurechtkommt, wirkt so auf den Astralleib zurück, daß in demselben Schmerz und Unbehagen auftreten muß. Weil sich das seelische Leben des Menschen von dem inneren leiblichen Erleben so emanzipiert, deshalb ist beim Menschen ganz gewiß gegenüber dem höheren Tier der Schmerz, der durch die bloßen leiblichen Verhältnisse herbeigeführt wird, kein so peinigender und in der Seele fressender als beim Tier. Wir können das noch bei Kindern beobachten, wie leiblicher Schmerz noch ein viel größerer seelischer Schmerz ist als in den späteren Jahren, weil der Mensch in dem Maße, als er von der leiblichen Organisation unabhängig wird, in den Eigenschaften seiner Seele, die ihm unmittelbar aus der Seele kommen müssen, auch die Mittel findet gegen den leiblichen Schmerz, während das höhere Tier, das so eng an seine Leiblichkeit gebunden ist, auch mit alledem, was Schmerz bedeutet, in einem unendlich viel höheren Maße zusammenhängt als der Mensch. [2]

Denken wir nun, wir verletzen den Finger durch einen Schnitt, da verhindern wir durch diesen Einschnitt den Ätherfinger daran, daß er die Teile in der richtigen Weise anordnet. Er ist im Finger und sollte die Teile zusammenhalten. Dieser mechanische Einschnitt hält sie auseinander, da kann der Ätherfinger nicht tun, was er tun soll. Dieses Nichtkönnen bezeichnet man am besten mit Entbehrung. Diese Unmöglichkeit, einzugreifen, empfindet der astralische Teil des Fingers als Schmerz. So entsteht in der Tat der Schmerz, und er dauert so lange, bis nunmehr das Astralische in diesem einzelnen Teil sich daran gewöhnt hat, daß diese Tätigkeit nicht mehr ausgeführt wird. Vergleichen wir nun damit den Schmerz im Kamaloka. Dort ist (nach dem Tode) plötzlich dem Menschen sein ganzer Leib entrissen, er ist nicht mehr da, und die Ätherkräfte können nicht mehr eingreifen. Der Astralleib spürt, daß das Ganze nicht mehr organisiert werden kann, er begehrt die Tätigkeit, die man nur mit dem physischen Leibe ausführen kann, er empfindet diese Entbehrung als Schmerz. Jeder Schmerz ist eine unterdrückte Tätigkeit. Jede unterdrückte Tätigkeit im Kosmos führt zum Schmerz, und weil oft Tätigkeit im Kosmos zu unterdrücken ist, ist der Schmerz etwas Notwendiges im Kosmos. [3] Würden wir nicht Schmerz erleiden, so würde es uns gehen wie einem Kind, das nicht laufen lernen kann, wenn man ihm den Schmerz erspart. Der Schmerz ist ein Entwickelungsfaktor. [4] Es ist eben durchaus im Kosmos so eingerichtet, daß auch diejenigen Dinge, die uns in höchster Schönheit, in herrlichstem Glanze entgegenstrahlen, ruhen müssen auf Schmerz, Leid, Entbehrung. [5]

Wenn wir mit unserem Geistig-Seelischen nicht verschmolzen mit unserm physischen Leibe, sondern abgesondert von ihm leben würden, dann würde das für unsere Seele einen ganz unnennbaren, unerträglichen Schmerz bedeuten; denn jeder Schmerz entsteht schon dadurch, daß das Organ nicht richtig funktioniert, daß das Organ erkrankt, daß wir vertrieben werden aus einem Teil unseres physischen Leibes. Würden wir ganz vertrieben sein, würden wir, wenn ich mich so ausdrücken darf, «extra» von unserem physischen Leibe sein, so müßten wir einen unnennbaren Schmerz erleben. Jeden Morgen beim Aufwachen droht uns gewissermaßen dieser Schmerz. Wir überwinden ihn dadurch, daß wir untertauchen in unseren physischen und Ätherleib und uns mit ihnen verbinden. [6]

Wenn wir einen Menschen vor uns haben, bei dem der astralische Leib die Tendenz aufgenommen hat, sich mehr zu vereinigen mit Ätherleib und physischem Leib, als es normalerweise der Fall sein sollte, so haben wir dieselbe Erscheinung für den Astralleib vor uns, welche wir sonst beim Aufwachen für den Ich-Menschen vor uns haben. Wenn unser astralischer Leib dasselbe tut, was wir sonst beim Aufwachen tun, nämlich sich hineindrängt in den physischen Leib und Ätherleib, wenn der astralische Leib, der sonst bei uns kein Bewußtsein entwickeln sollte, nach einem Bewußtsein strebt im physischen Leib und Ätherleib, wenn er in uns aufwachen will, dann werden wir krank. Der astralische Leib muß, wenn wir am Tage unser Ich-Bewußtsein haben, schlafen. Und was ist denn das Bewußtsein dieses astralischen Leibes? Das Bewußtsein, was da auftaucht, drückt sich aus in dem, was wir den Krankheitsschmerz nennen. Der Schmerz ist der Ausdruck dafür, daß der astralische Leib sich so hineinpreßt in den physischen Leib und Ätherleib, wie er nicht drinnen sein soll und zum Bewußtsein kommt. [7] Wenn der Astralleib zu mächtig ist, wird das Organ deformiert, und es tritt Schmerz auf. Wenn das Organ sogleich den Einfluß des Astralleibes ausgleicht im Status nascendi, dann tritt das Gefühl ein. Aber Schmerz ist im Grunde genommen Gefühl, nur gesteigertes Gefühl, von der Deformation herrührend. [8]

Der Schmerz, der das Bewußtwerden des unrichtig wachenden astralischen Leibes ist, er ist zugleich auch das, was uns davon abbringen kann, den luziferischen Mächten auf diesem Gebiet, wo wir ihnen schon verfallen sind, immer weiter zu verfallen. So wird der Schmerz in bezug auf die Versuchung der luziferischen Mächte unser Erzieher. Daß wir (nun) die wohltätige Kraft des Schmerzes nicht gewahr werden, ist nur eine Folge unseres Ich-Bewußtseins. In dem Bewußtsein, unter dem Ich-Bewußtsein liegend, spielt sich schon der Prozeß ab, wenn auch der Mensch mit dem Tagesbewußtsein nichts davon weiß. Deshalb können wir sagen: Überall, wo bei einer Krankheit Schmerz auftritt, da ist es eine luziferische Macht, welche diese Krankheit bewirkt hat. Es ist der Schmerz geradezu ein Kennzeichen dafür, daß wir es zu tun haben mit dem Zugrundeliegen von luziferischer Macht. [9] Es sind die guten Mächte, welche über den Menschen den Schmerz verhängen gegenüber dem Einfluß Luzifers. Bringen Sie das einmal in Zusammenhang mit der Urkunde des Alten Testamentes. Als der Einfluß des Luzifer geschehen war, wie er uns symbolisiert wird durch die Schlange, welche die Eva verführt, mußte also von den Gegnern des Luzifer gerade über das, wozu Luzifer die Menschen bringen wollte, der Schmerz verhängt werden. Das tut Jahve, indem er sagt: «Unter Schmerzen sollst du Kinder gebären!» [10]

Zitate:

[1]  GA 148, Seite 277f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[2]  GA 60, Seite 91ff   (Ausgabe 1983, 496 Seiten)
[3]  GA 107, Seite 67f   (Ausgabe 1973, 328 Seiten)
[4]  GA 52, Seite 183   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)
[5]  GA 227, Seite 205   (Ausgabe 1982, 270 Seiten)
[6]  GA 225, Seite 131f   (Ausgabe 1990, 192 Seiten)
[7]  GA 120, Seite 124f   (Ausgabe 1975, 230 Seiten)
[8]  GA 316, Seite 35f   (Ausgabe 1980, 246 Seiten)
[9]  GA 120, Seite 134f   (Ausgabe 1975, 230 Seiten)
[10]  GA 120, Seite 144f   (Ausgabe 1975, 230 Seiten)

Quellen:

GA 52:  Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung (1903/1904)
GA 60:  Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins (1910/1911)
GA 107:  Geisteswissenschaftliche Menschenkunde (1908/1909)
GA 120:  Die Offenbarungen des Karma (1910)
GA 148:  Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium (1913/1914)
GA 225:  Drei Perspektiven der Anthroposophie. Kulturphänomene, geisteswissenschaftlich betrachtet (1923)
GA 227:  Initiations-Erkenntnis. Die geistige und physische Welt- und Menschheitsentwickelung in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vom Gesichtspunkt der Anthroposophie (1923)
GA 316:  Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst (1924)