Schluß – Urteil – Begriff

Indem wir uns logisch, das heißt, denkend-erkennend betätigen, haben wir in dieser Betätigung immer drei Glieder. Erstens haben wir immerfort dasjenige, in unserem denkenden Erkennen drinnen, was wir Schlüsse nennen. Für das gewöhnliche Leben äußert sich ja das Denken in der Sprache. Wenn Sie das Gefüge der Sprache überblicken, werden Sie finden: indem Sie sprechen, bilden Sie fortwährend Schlüsse aus. Diese Tätigkeit des Schließens ist die allerbewußteste im Menschen. Der Mensch würde sich durch die Sprache nicht äußern können, wenn er nicht fortwährend Schlüsse sprechen würde; er würde nicht das, was der andere zu ihm sagt, verstehen können, wenn er nicht fortwährend Schlüsse in sich aufnehmen könnte.

Die Schullogik zergliedert gewöhnlich die Schlüsse; dadurch verfälscht sie sie schon, insofern die Schlüsse im gewöhnlichen Leben vorkommen. Die Schullogik bedenkt nicht, daß wir schon einen Schluß ziehen, wenn wir ein einzelnes Ding ins Auge fassen. Denken Sie sich, Sie gehen in eine Menagerie und sehen dort einen Löwen. Was tun Sie denn zuallererst, indem Sie den Löwen wahrnehmen? Sie werden zuallererst das, was Sie am Löwen sehen, sich zum Bewußtsein bringen, und nur durch dieses Sich-zum-Bewußtsein-Bringen kommen Sie mit Ihren Wahrnehmungen gegenüber dem Löwen zurecht. Sie haben im Leben gelernt, ehe Sie in die Menagerie gegangen sind, daß solche Wesen, die sich so äußern wie der Löwe, die Sie jetzt sehen, «Tiere» sind. Was Sie da aus dem Leben gelernt haben, bringen Sie schon mit in die Menagerie. Dann schauen Sie den Löwen an und finden; der Löwe tut eben auch das, was Sie bei den Tieren kennengelernt haben. Dies verbinden Sie mit dem, was Sie aus der Lebenserkenntnis mitgebracht haben, und bilden sich dann das Urteil: Der Löwe ist ein Tier. – Erst wenn Sie dieses Urteil sich gebildet haben, verstehen Sie den einzelnen Begriff «Löwe». Das erste, was Sie ausführen, ist ein Schluß; das zweite, was Sie ausführen, ist ein Urteil; und das letzte, wozu Sie im Leben kommen, ist ein Begriff. Sie wissen natürlich nicht, daß Sie diese Betätigung fortwährend vollziehen; aber würden Sie sie nicht vollziehen, so würden Sie kein bewußtes Leben führen, das Sie geeignet macht, sich durch die Sprache mit anderen Menschenwesen zu verständigen. Man glaubt gewöhnlich, der Mensch komme zuerst zu den Begriffen. Das ist nicht wahr. Das erste im Leben sind die Schlüsse. Und wir können sagen: Wenn wir nicht unsere Wahrnehmung des Löwen, wenn wir in die Menagerie gehen, aus der gesamten übrigen Lebenserfahrung herausschälen, sondern wenn wir sie in unsere ganze übrige Lebenserfahrung hineinstellen, so ist das erste, was wir in der Menagerie vollbringen, das Ziehen eines Schlusses. – Wir müssen uns klar sein: daß wir in die Menagerie gehen und den Löwen sehen, ist nur eine Einzelhandlung und gehört zum ganzen Leben hinzu. Wir haben nicht angefangen zu leben, als wir die Menagerie betreten und den Blick auf den Löwen gerichtet haben. Das schließt sich an das vorherige Leben an, und das vorherige Leben spielt da hinein, und wiederum wird das, was wir aus der Menagerie mitnehmen, hinausgetragen in das übrige Leben. – Wenn wir aber nun den ganzen Vorgang betrachten, was ist dann der Löwe zuerst? Er ist zuerst ein Schluß. Ein bißchen später: Der Löwe ist ein Urteil. Und wieder ein bißchen später: Der Löwe ist ein Begriff. [1] (Siehe auch: Logik).

Die offizielle Wissenschaft sagt: Das Nervensystem ist der Vermittler von Vorstellung, Urteil, Schluß, sogar von Gefühl und Wille. – Aber schon bei diesem Vorstellen, Urteilen und Schließen ist es nicht so, wie das heutige offizielle Denken meint. Nur das Vorstellen als solches ist nämlich eine Kopfangelegenheit (-also eine Angelegenheit des Nervensystems). Wenn Sie ein Urteil fällen, dann müssen Sie allerdings durch die Vermittelung des Ätherleibes fühlen, wie Sie auf den Beinen stehen. Sie urteilen nämlich gar nicht mit dem Kopf, Sie urteilen mit den Beinen, allerdings mit den Beinen des Ätherleibes. Derjenige, der urteilt, auch wenn er liegt, streckt seine Ätherbeine aus. Urteilen beruht nicht auf dem Kopfe, Urteilen beruht auf den Beinen. Das glaubt einem natürlich heute keiner, aber wahr ist es doch. Und Schließen, das beruht auf den Armen und Händen, überhaupt auf dem, was sich beim Menschen heraushebt aus dem, was auch das Tier hat. Das Tier steht auf den Beinen, das Tier ist selbst ein Urteil, aber es schließt nicht. Der Mensch schließt. Dazu hat er seine Arme frei bekommen, dazu sind seine Arme da, nicht zum Gehen. Und was sich vollzieht, indem man auf seine Ätherbeine tritt, und was sich vollzieht, indem man seinen Astralarm bewegt, das ist ein Urteil, das ist Schluß, das spiegelt sich bloß im Haupte als Vorstellung und wird dann auch zur Vorstellung. So daß man den ganzen Menschen braucht, nicht bloß den Nerven-Sinnesmenschen, damit Urteil und Schluß zustande kommen. Der Mensch holt aus seinem Gliedmaßensystem eigentlich Urteil und Schluß heraus. Das sind nämlich schon Willensakte im Grunde genommen. [2]

Zitate:

[1]  GA 293, Seite 134ff   (Ausgabe 1980, 216 Seiten)
[2]  GA 205, Seite 123f   (Ausgabe 1967, 247 Seiten)

Quellen:

GA 205:  Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Erster Teil:. Der Mensch als leiblich-seelische Wesenheit in seinem Verhältnis zur Welt (1921)
GA 293:  Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik (1919)