Der Esoteriker kann immer 3 Stufen des Verständnisses der Sagenwelt durchmachen. Zunächst leben die Sagen in irgendeinem Volke, und sie werden exoterisch, äußerlich-wörtlich genommen. Dann beginnt der Unglaube an diese wörtliche Auffassung der Sagen, und es versuchen die Gebildeten eine symbolische, eine sinnbildliche Deutung der Sagen. Hinter diesen zwei Deutungen stecken aber noch 5 andere Deutungen; denn jede Sage hat 7 Deutungen. Die 3. ist diejenige, wo Sie in der Lage sind, die Sagen wiederum in einer gewissen Weise wörtlich zu nehmen. Allerdings müssen Sie erst die Sprache verstehen lernen, in der die Sagen verfaßt sind. [1]
Die Sagen sind nichts anderes als Wiedergaben dessen, was in den Krypten der Mysterien sich zugetragen hat. Einen solchen Mysterienvorgang nennt man, so wie man das Wort Mysterium im Süden hatte, im Norden eine Mahr, woraus das Wort Märchen dann entstanden ist. [2] Durch Sagen und Mythen haben sich ja in früheren Zeiten die Wissenden zu dem Volke über die tiefsten Wahrheiten ausgesprochen. Wenn man damals den Menschen, die da lebten, wo heute Nord- und Mitteleuropa ist, solche Begriffe beigebracht hätte, wie wir sie jetzt in der theosophischen Weltanschauung bekommen, so würden die Menschen von dazumal nichts davon gehabt haben. Die Weisen sprachen zu jedem Volk und Zeitalter so, wie das Volk und das Zeitalter sie verstehen konnte. Sie gingen dabei immer aus von dem Gesetz der Wiederverkörperung oder Reinkarnation. Der Druidenpriester sprach schon zu all den Seelen, die heute unsere Weltanschauung aufnehmen. Er sprach zu ihnen so, wie es für die damalige Zeit geeignet war. Wir alle, die wir die theosopische Weltanschauung aufnehmen, haben dasselbe schon früher als Mythen und Märchen gehört, sonst würden wir es heute gar nicht verstehen können. Das ist das Geheimnis der großen Meister: Sie leben ganz in dem Bewußtsein, daß sie unter Menschen sind, die immer wieder verkörpert werden. [3] Dasjenige, was Mythe war, sah der Eingeweihte während des Ganges in die geistige Welt. Das vermochte er den anderen Menschen nun zu sagen, indem er es in die Mythen und Sagen kleidete. [4]
Wir kommen zurecht mit all diesen Sagen, wenn wir mit den Gestalten, die uns vorgeführt werden, bildliche Darstellungen für innere hellseherische oder erinnerte hellseherische Verhältnisse sehen. So dürfen wir in Siegfrieds Verhältnis zu Kriemhilde sein Verhältnis zu seinen eigenen Seelenkräften sehen, die in ihm walten. Die Walküre ist die Personifikation der lebendigen Seelenkräfte, die im gegenwärtigen Menschen sind, jener Seelenkräfte, bis zu denen das alte hellseherische Bewußtsein hinkam, die aber der gegenwärtige Mensch erst erlebt, wenn er durch die Pforte des Todes tritt. Da wird er erst mit dieser Seele, die in Brunhilde dargestellt wird, vereint. [5] (Siehe auch: Märchen; Mythen).
[1] | GA 93, Seite 47 | (Ausgabe 1979, 370 Seiten) |
[2] | GA 92, Seite 91f | (Ausgabe 1999, 198 Seiten) |
[3] | GA 92, Seite 147 | (Ausgabe 1999, 198 Seiten) |
[4] | GA 106, Seite 145 | (Ausgabe 1978, 180 Seiten) |
[5] | GA 158, Seite 27f | (Ausgabe 1993, 234 Seiten) |
GA 92: | Die okkulten Wahrheiten alter Mythen und Sagen. Griechische und germanische Mythologie. Über Richard Wagners Musikdramen (1904-1907) |
GA 93: | Die Tempellegende und die Goldene Legende. als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen (1904/1906) |
GA 106: | Ägyptische Mythen und Mysterien. im Verhältnis zu den wirkenden Geisteskräften der Gegenwart (1908) |
GA 158: | Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt. Kalewala – Olaf Åsteson – Das russische Volkstum – Die Welt als Ergebnis von Gleichgewichtswirkungen (1912-1914) |