Religion

Das Wort Religion bedeutet: Verbindung des Menschen mit seinem Göttlichen, mit der geistigen Welt. [1] Die einzelnen Religionen über die Erde hin sind die in die Dekadenz gekommenen Fragmente der Uroffenbarung. [2] Aller Glaubensinhalt, der heute existiert, war einmal ein alter Erkenntnisinhalt, der nur als Reminiszenz heraufgebracht wird, indem die Tradition sich ihn erhalten hat. Es gibt keinen Glaubensinhalt, der nicht Reminiszenz eines alten Erkenntnisinhaltes ist. [3]

Will der Mensch zu einer erkenntnismäßigen Grundlage des religiösen Lebens kommen und will er zu einer Erkenntnisgrundlage für Kosmologie kommen, so muß er im vollbewußten Erdendasein Bilder desjenigen hervorrufen können, was im vorirdischen Dasein erlebt wird. [4]

Eine Art der Auseinandersetzung des Menschen mit der Außenwelt besteht darin, daß er sein Inneres als ein Äußeres ansieht und dieses nach außen versetzte Innere zugleich als den Herrscher und Gesetzgeber über die Natur und sich selbst setzt. Ich habe hiermit den Standpunkt des religiösen Menschen charakterisiert. Eine göttliche Weltordnung ist ein Geschöpf des menschlichen Geistes. Nur ist sich der Mensch nicht klar darüber, daß der Inhalt dieser Weltordnung aus seinem eigenen Geiste entsprungen ist. Er verlegt ihn daher nach außen und ordnet sich seinem eigenen Erzeugnis unter. Das ganze Weltall ist ihm ein Reich, und die Gesetze, die dies Reich regieren, entsprechen ganz denen, die der menschliche Geist aus sich selbst hervorbringt. In dieser Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt tritt ein ursprünglicher Zug der menschlichen Natur zutage. Der Mensch mag sich noch so unklar über sein Verhältnis zur Welt sein: er sucht doch in sich den Maßstab, mit dem er alle Dinge messen kann. Aus einer Art unbewußten Souveränitätsgefühles heraus entscheidet er über den absoluten Wert alles Geschehens. Man kann forschen, wie man will: Menschen, die sich von Göttern regiert glauben, gibt es ohne Zahl; solche, die nicht selbständig, über den Kopf der Götter hinweg ein Urteil fällen, was diesen Göttern gefallen kann oder mißfallen, gibt es nicht. Zum Herren der Welt vermag der religiöse Mensch sich nicht aufzuwerfen; wohl aber bestimmt er die Neigungen der Weltherrscher aus eigener Machtvollkommenheit. Man braucht die religiös empfindenden Naturen nur zu betrachten, und man wird meine Behauptung bestätigt finden. Wo hat es je Verkündiger von Göttern gegeben, die nicht zugleich ganz genau festgestellt hätten, was diesen Göttern gefällt und was ihnen zuwider ist. [5]

Wenn wir weit genug zurückgehen, finden wir dasjenige, was früher die Menschen als eine atavistische Weisheit hatten, als ein wirkliches Anschauen der geistigen Welten, ausgedrückt im Nachklang religiöser Weltanschauungen dadurch, daß die Menschen verehrten, was mehr oder weniger ein bedeutungsvoller, hochangesehener Vorfahre war. Die ältesten Ahnenkulte waren durchaus so, daß die Menschen in gewissen Zeiten ihres Lebens eine unmittelbare Anschauung des Ahnen hatten. Dasjenige, was die Menschen im Geiste schauten, war allerdings eine ins Erhabene hinaufgesteigerte Menschengestalt; aber hinter dieser Menschengestalt verbarg sich noch etwas anderes. Den Ätherleib ihres Ahnen nahmen die Leute in ihrem alten atavistischen, traumhaften Hellsehen wahr, verehrten dasjenige, was sich ihnen offenbarte durch diesen Ätherleib. Aber zwischen dem Tod und einer neuen Geburt kommt dieser Ätherleib in Berührung mit den Geistern der höheren Hierarchien, vor allen Dingen mit den Geistern aus der Hierarchie der Archai, der Zeitgeister. Und weil der betreffende (Ahne) eine für die Menschheitsentwickelung bedeutsame Persönlichkeit war, so verband er sich mit dem Zeitgeist, der die Menschheitsentwickelung (durch diesen Ahnen) um ein Stück vorwärts brachte. Dasjenige, was sich durch dieses, sagen wir meinetwillen, Gespenst des Vorfahren kundgab, das war im Grunde genommen der Zeitgeist. Also indem wir zu den Ahnenkulten zurückgehen, haben wir die Verehrung der Archai. [6] In den ältesten Zeiten blickten die Menschen hinauf zu den Zeitgeistern; dann blickten sie hinauf zu denjenigen Geistern, die nun nicht mehr Zeitgeister sind, sondern die gleichwertig sind mit den Geistern, welche auch die Führung der Volksstämme haben, zu den Archangeloi. So daß wir sagen können: der Polytheismus folgt auf den Ahnenkult, und die Menschen verehren Archangeloi. Dann kommt das Zeitalter, in dem die Menschen noch weiter heruntersteigen, das Zeitalter, in dem schon nach und nach das Ich des einzelnen Menschen geboren werden soll. Und wir finden, daß die fortgeschrittensten Nationen verhältnismäßig früh, andere später– die Ägypter zum Beispiel schon im 2.Jahrtausend, vorderasiatische Völker später – zum Monotheismus übergehen, das heißt beginnen, nicht mehr Archangeloi, sondern Angeloi, jeder seinen Angelos, zu verehren. Sie steigen herunter von dem höheren Polytheismus zu dem niedrigeren Monotheismus. Wäre das Mysterium von Golgatha nicht gekommen, dann wären die Menschen degeneriert; sie würden heruntergestiegen sein von der Verehrung der Angeloi zu der Verehrung der nächstuntergeordneten Hierarchie, des Menschen selber. Und wir brauchen ja nur uns zu erinnern, wie sich die römischen Cäsaren als Götter haben verehren lassen, wie sie wirklich für das Volk Götter waren.

In dieser Zeit mußte, um die Menschen davor zu retten, den Erdenmenschen anzubeten, der Gottmensch erscheinen. Daß der Gottmensch in die Geschichte eintrat, das bedeutet eine wesentlich neue Art, sich zum religiösen Leben zu stellen. Denn wo waren denn gefunden Angeloi-, Archangeloi-, Archai-Verehrung, wo war schließlich auch noch die Menschenverehrung der römischen Cäsaren gefunden? Im Menschen selber; denn keiner verehrte den Cäsaren durch den Cäsaren, sondern durch sich selber selbstverständlich; das war im Menschen selber entsprungen, das kam aus der menschlichen Seele heraus. Der Christus mußte als historische Tatsache in die Menschheitsentwickelung eintreten, er mußte wie die Naturerscheinungen selber von außen wahrgenommen werden, er mußte auf einem ganz anderen Weg an die Menschen herantreten, als die Götter der alten Religionen an die Menschen herangetreten sind. «Wo zwei in meinem Namen vereinigt sind, bin ich mitten unter ihnen» – das ist ein wichtiger Satz des Christentums, denn er bedeutet, daß man zwar auf dem Wege der bloß individuellen Mystik Angeloi, Archangeloi, auch noch Archai finden kann, daß man auf dem Weg der individuellen Mystik aber nicht den Christus finden kann. Diejenigen, die individuelle Mystik pflegen wollen, so wie das oftmals auch unter Theosophen geschildert wird, die kommen in der Regel auch nur bis zum Angelos. Sie verinnerlichen nur diesen Angelos mehr, machen ihn manchmal noch sogar um etwas egoistischer, als die anderen Menschen ihren Gott machen. [7]

So wie die Naturgelehrten instinktiv heute die Anschauung entwickeln, daß die Natur schon selber die Wirklichkeit darbietet, aber höchstens zum Atomismus kommen, so sind die Vertreter gewisser Religionsgemeinschaften heute bemüht, die Sache gegenüber der Seele so darzustellen, als ob die Seele mit ihrem Denken, Fühlen und Wollen schon das Wirkliche wäre, und daß sie dann nach dem Tode mit diesem Denken, Fühlen und Wollen weiterleben würde. So wie die Naturgelehrten die Naturmaya beschreiben, so beschreiben die Vertreter gewisser Religionsge-meinschaften die Seelenmaya, und sie dienen mit diesen Anschauungen instinktiv in gewissem Sinne der Evolution der Menschheit. Ich habe es öfters angedeutet, daß schon vom Mittelalter an in der historischen Form des Christentums die sogenannte Trichotomie, die Dreiteilung des Menschen in Leib, Seele und Geist, eine Ketzerei zu sein begann. Leib und Seele waren als eine Zweiheit aufgestellt. Das entspricht dem Instinkt, schon in der Zahl nur bei demjenigen zu bleiben, was nur für diese Welt hier eine Bedeutung hat. So daß wirklich diese Tendenz vorhanden ist, den Menschen darinnen zu halten in der Welt, die eigentlich doch nur eine Maya ist, weil man bei dem mayahaften Denken, Fühlen und Wollen stehenbleibt. Dann faßt man eigentlich nur dasjenige ins Auge, was von der gegenwärtigen Inkarnation verbraucht wird in der nächsten Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Das, was im Menschen ausgebildet wird, um in der nächsten Inkarnation zu erscheinen, läßt man ganz aus dem Spiele. [8] Wenn wir von dem sprechen, was sich hier auf Erden unserer Seele offenbart, dann sprechen wir von etwas, was gar nicht mitgeht in die nächste Inkarnation. Die Tatsache soll verhüllt werden, daß das Geistige in die geistigen Welten hineingeht und weiterlebt bis zur nächsten Inkarnation. Alles Bestreben der Vertreter der verschiedenen Religionsgemeinschaften geht vorzugsweise ganz entschieden darauf hinaus, die Tatsache zu verhüllen, daß es eine geistige Welt gibt, der unser innerster Wesenskern angehört, welcher dazu bestimmt ist, in wiederholten Erdenleben zu erscheinen und dazwischen ein wirklich geistiges Leben durchzumachen; sie dadurch zu verhüllen, indem man die Menschen damit tröstet, daß dasjenige der Seelenhaftigkeit, das sich im Denken, Fühlen und Wollen auslebt, schon genügend unsterblich sei. Was da die Seelenpfleger instinktiv tun und denken, ist, daß sie die Menschen davor abhalten, wiederum mit gewissen geistigen Wesen in Berührung zu kommen. Man kann nie in die Welt, die unser wahres Inneres ist, eindringen, ohne mit gewissen Wesen in Berührung zu kommen, wie man mit gewissen Wesen in Berührung kommt, wenn man den Schleier der Natur durchstossen will und kann; nur sind diejenigen Wesen, mit denen man jetzt in Berührung kommt, luziferischer Art. Sehen Sie, wenn der Mensch dadurch, daß man ihm ohne die nötige Vorsicht gewisse Lehren ausliefert, wirklich in Beziehung kommt mit gewissen zerstörenden Wesen hinter dem Schleier der Natur, dann wird er von solcher Art, daß er nichts schätzt in der Welt, und er wird bald zeigen, daß er Freude am Zerstören, am Vernichten hat. Es muß nicht immer Äußeres sein, was er vernichtet. Manche, bei denen das der Fall war, haben Freude gezeigt, andere Seelen zu quälen, zu schinden. Diese Eigenschaften treten da auf, aber man kann nicht sagen, daß Menschen mit solchen Eigenschaften wegen des Bündnisses mit ahrimanischen Elementarmächten immer egoistisch sind. Sie zerstören, auch wenn sie nicht das geringste davon haben. Die anderen Wesen, in deren Sphäre man kommt, wenn man hinter den Schleier des Seelenlebens geht, sind ganz anderer Natur. Eigentlich kennen sie das, was man Zerstören nennt, gar nicht. Sie haben eine wahre Wut, zu schaffen, etwas entstehen zu lassen; sie haben einen ungeheuren Tätigkeits- und Produktionstrieb. Da kommen wir in eine Sphäre hinein, wo Wesen sind, die eminent verwandt sind mit unserem Wollen, aber mit den edelsten Seiten unseres Wollens, kurioserweise. [9]

Also wenn wir in der Welt zunächst, ohne daß wir etwas von dem wissen, was der Eingeweihte weiß, daß sowohl hinter der Naturwelt wie auch hinter der Seelenwelt eine geistige Welt ist –, wenn wir unser Wollen durchdringen, imprägnieren mit Idealen, wenn wir edles vergeistigtes Wollen entwickeln und wir treten ein in diese Welt, dann wird dieses edle Wollen verbündet gerade mit den niederen Eigenschaften dieser Wesen, in deren Sphäre wir hineinkommen. Es ist ein geheimnisvolles Anziehungsband zwischen unserer edlen Willensseite und den niederen Trieben und Bedürfnissen dieser Wesenheiten. Denken Sie nun, wenn ein Mensch einem Seelenpfleger gegenübersteht, der ihm zur Pflege seiner Seele den Trost der Unsterblichkeit gibt, den Wert der Menschenseele, den Wert des Göttlichen und so weiter, da kann es dazu kommen, daß durch einen geringfügigen Anstoß der Mensch, gerade wenn er ein edler Mensch war, das Seelenhäutchen an irgendeiner Stelle durchstößt und hinter die Geheimnisse des Denkens, Fühlens und Wollens kommt. Aber er kommt in die Region dieser Willenswesen hinein, und die Folge davon ist, daß wirklich nun gerade die ideale Seite des Wollens anfängt, einen sinnlichen Charakter anzunehmen. Es ist das Bestreben dieser Willenswesen, in unser Denken, in unsere Ideale hineinzugießen, was wir sonst nur als Sinnlichkeit kennen. Und es ist dann so, als wenn in dem Wollen unseres Kopfes, das sonst eine gewisse Kühle hatte, nun ein schwüles Empfinden der geistigen Welt leben würde, was oft als Charakter heißer, schwüler Mystik auftritt. Davon haben die Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften eine heillose Angst, und vor nichts fürchten sich die Vertreter gewisser Religionsgemeinschaften mehr als vor denen, die in ihrer gläubigen Gemeinde sich als Mystiker auftun. [10]

Sie sehen, mit einer Zweiheit haben wir es zu tun: mit dem objektiven Okkultismus, der, wenn er einfach den Menschen ausgeliefert wird, die nicht dazu vorbereitet sind, die Menschen zu zerstörerischen Wesen macht; und mit der subjektiven Mystik, die, wenn sie von den Menschen gepflegt wird, oder aufkommt, diese Menschen aus Idealisten zu Egoisten macht, zu Egoisten, wie sie uns entgegentreten in zahlreichen Mystikern, die nur einen raffinierten Egoismus, eine raffinierte Sucht, ihre Seele zu pflegen, entwickelten. [11]

Religion ist nach der ganzen Art und Weise, wie man versucht hat, Religion in die Menschheitsströmungen hineinzubringen, in den verflossenen Jahrhunderten eine Verquickung von zwei Dingen, von denen das eine im strengen Sinne des Wortes nicht eigentlich Religion genannt werden darf; das andere ist Religion. Was ist denn in Wirklichkeit Religion? Das ist doch etwas, was wir charakterisieren müssen als eine Stimmung der Menschenseele: die Stimmung für das Geistige, für das Unendliche. Im Grunde können wir sie gut charakterisieren, wenn wir anfangen bei dem Einmaleins dieser Stimmung, die dann nur bis zum Höchsten hinauf gesteigert werden müssen. Wenn wir über die Wiese gehen und eine offene Seele haben für das, was da grünt und blüht, so werden wir etwas Freudiges empfinden für die Herrlichkeiten, die sich offenbaren durch die Blumen und Gräser, durch dasjenige, was sich in der Landschaft spiegelt, was in der Tauperle glänzt. Wenn wir eine solche Stimmung aufbringen, wenn dabei unser Herz aufgeht, dann ist das noch nicht Religion. Das kann erst dann Religion werden, wenn sich dieses Gefühl steigert für das Unendliche, das hinter dem Endlichen ist, für das Geistige, das hinter dem Sinnlichen ist. Wenn unsere Seele so fühlt, daß sie die Gemeinschaft mit dem Geistigen empfindet, dann entspricht diese Stimmung demjenigen, was in der Religion lebt. Je mehr wir in uns diese Stimmung für das Ewige steigern können, desto mehr fördern wir die Religion in uns oder anderen Menschen. Nun aber hat es die notwendige Entwickelung der Zeit dahin gebracht, daß dasjenige, was so im Grunde genommen Impulse sein sollen, die das menschliche Empfinden und Fühlen von dem Vergänglichen auf das Unvergängliche hinlenken, verquickt worden ist mit gewissen Ideen und Anschauungen, wie es im Reiche des Übersinnlichen ausschaut, wie es darin beschaffen ist. Dadurch aber ist Religion in gewissem Sinne verknüpft worden mit dem, was eigentlich Geisteswissenschaft ist, mit dem, was eigentlich als Wissenschaft angesehen werden muß. Und wir sehen heute, wie in diesem Kirchenglauben dann Religion in dieser oder jener Form nur aufrechtzuerhalten ist, wenn gleichzeitig ganz bestimmte Lehrsätze aufrechterhalten bleiben. Dadurch wird aber das erzeugt, was man nennen kann das starre dogmatische Festhalten an gewissen Vorstellungen über die geistige Welt. (Aber) derartige Vorstellungen müßten natürlich fortschreiten, weil der menschliche Geist fortschreitet. Über ein solches Fortschreiten sollte sich das eigentlich richtige religiöse Gefühl am meisten freuen, weil dieses Fortschreiten die Herrlichkeiten der göttlich-geistigen Welt um so größer, bedeutungsvoller zeigt. Wahres religiöses Gefühl würde nicht Giordano Bruno dem Scheiterhaufen überliefert haben, sondern es würde gesagt haben: Oh, es ist Gott groß, daß er Menschen dieser Art auf die Erde herunterschickt und durch sie solche Dinge offenbart. [12]

Diese christliche Weltauffassung – (kosmischer Christus) – wird Verständnis entgegenbringen können allen anderen Auffassungen der Menschen, bloß mit Ausnahme des groben, rohen Materialismus. Wenn man sich klar ist darüber, daß die Religionen Reste sind von alten Schauungen, alle Religionen über die Erde hin Reste sind von alten Schauungen, dann wird es darauf ankommen, daß diese ganz ernst genommen werden. Was da geschaut worden ist – und weil die Menschheit später nicht mehr für das Schauen eingerichtet war, ist es nur in fragmentarischer Gestalt bei den verschiedenen religiösen Bekenntnissen vorhanden –, das kann gerade durch das Christentum wiedererkannt werden. Und so kann man sich durch das Christentum aneignen ein tiefes Verständnis für jede Form religiösen Bekenntnisses auf der Erde, nicht nur für die großen Religionen, sondern für jede Form religiösen Bekenntnisses auf der Erde. Das ist freilich etwas, was leicht gesagt ist, aber so leicht es gesagt ist, so schwer wird es eigentlich wirklich Gesinnung der Menschen. Und es wird Gesinnung der Menschen werden müssen, Gesinnung der Menschen über die ganze Erde hin. Denn, so wie das Christentum zunächst auf der Erde aufgetreten ist bisher, ist es eine Religion unter anderen, ein Bekenntnis unter anderen Bekenntnissen. Und es ist in gewissem Sinne ein Widerspruch zwischen der Forderung, die im Christentum liegt, für alle Menschen zu gelten, und der Tatsache, daß es Einzelbekenntnis geworden ist. Aber es ist nicht veranlagt dazu, Einzelbekenntnis zu sein. Einzelbekenntnis kann es nur werden, wenn man es nicht in seinem ganz tiefen Sinne auffaßt. Und zu diesem tiefen Sinne gehört auch die kosmische Auffassung. [13] Über die kosmische Bedeutung des Christus werden Sie zu dem Juden, zu dem Chinesen, zu dem Japaner, zu dem Inder sprechen können, wie Sie zu dem christlichen Europäer sprechen. [14] Zur Erneuerung der Erkenntnisgrundlage des religiösen Lebens können wir nur gelangen, wenn wir eine Erkenntnismethode nicht abweisen, die hineinführen kann in die lebendige Anschauung des Erlebens des Geistesmenschen und der geistigen Wesenheiten. Gerade für die erkenntnismäßige Grundlegung der Religion brauchen wir diese Erkenntnismethode ganz besonders. Denn für die Religion kann das gewöhnliche Bewußtsein höchstens Erkenntnisse systematisieren oder verdeutlichen oder in eine Lehrgestalt bringen; finden kann es sie nicht. Sonst muß sich die Religion beschränken auf das bloß traditionelle Aufnehmen des aus ganz anderen menschlichen Seelenverfassungen in früheren Zeiten Hervorgegangenen. Soll das religiöse Leben aus den geistigen Bedürfnissen der Gegenwart heraus erneuert werden und eine lebendige Anfachung erfahren, so muß das Geistesleben der Gegenwart vollbewußte imaginative, inspirierte und intuitive Erkenntnis anerkennen und insbesondere für das religiöse Gebiet nicht nur anerkennen, sondern für den lebendigen religiösen Gehalt muß dieses unser modernes Geistesleben diese geisteswissenschaftlichen Ergebnisse auch in entsprechender Weise verwenden. [15]

Die Menschheit braucht fortwährend Wahrheiten, die nicht zu jeder Zeit vollständig verstanden werden können. Wahrheiten in sich aufnehmen, bedeutet nämlich nicht nur etwas für die Erkenntnis, sondern Wahrheiten als solche enthalten Lebenskraft. Und indem wir uns mit der Wahrheit durchdringen, durchdringen wir uns in unserem Seelischen mit einem Elemente der Welt, wie wir uns durchdringen müssen in unserem Leiblichen fortwährend mit der von außen aufgenommenen Luft, damit wir leben können. Das ist der Grund, warum in den religiösen Urkunden tiefe Wahrheiten ausgesprochen werden, aber in solcher Form, daß die Menschen sie oftmals ihrer eigentlich inneren Bedeutung nach erst viel, viel später erkennen können, als sie geoffenbart werden. Die ganze Erdentwickelung, die noch kommen soll, wird notwendig sein, um das Neue Testament vollständig zu verstehen. Man wird in der Zukunft noch über die äußere Welt vieles erfahren, man wird vieles erfahren über die geistige Welt, und alles wird dazu beitragen können, wenn man es im richtigen Lichte sehen wird, das Neue Testament zu verstehen. [16]

Der Kirchenvater Augustinus sagt: Dasjenige, was man heute christliche Religion nennt, ist uralt. Es ist die uralte wahre Religion, und das, was die uralte wahre Religion ist, das nennt man jetzt die christliche Religion. [17]

Zitate:

[1]  GA 104, Seite 16   (Ausgabe 1979, 284 Seiten)
[2]  GA 175, Seite 121   (Ausgabe 1982, 416 Seiten)
[3]  GA 215, Seite 25   (Ausgabe 1980, 188 Seiten)
[4]  GA 215, Seite 102   (Ausgabe 1980, 188 Seiten)
[5]  GA 30, Seite 101f   (Ausgabe 1961, 629 Seiten)
[6]  GA 172, Seite 200ff   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[7]  GA 172, Seite 202ff   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[8]  GA 254, Seite 162f   (Ausgabe 1969, 279 Seiten)
[9]  GA 254, Seite 164ff   (Ausgabe 1969, 279 Seiten)
[10]  GA 254, Seite 166   (Ausgabe 1969, 279 Seiten)
[11]  GA 254, Seite 168   (Ausgabe 1969, 279 Seiten)
[12]  GA 127, Seite 23f   (Ausgabe 1975, 256 Seiten)
[13]  GA 175, Seite 124   (Ausgabe 1982, 416 Seiten)
[14]  GA 175, Seite 126   (Ausgabe 1982, 416 Seiten)
[15]  GA 215, Seite 78   (Ausgabe 1980, 188 Seiten)
[16]  GA 155, Seite 195   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)
[17]  GA 55, Seite 244   (Ausgabe 1959, 278 Seiten)

Quellen:

GA 30:  Methodische Grundlagen der Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie, Naturwissenschaft, Ästhetik und Seelenkunde (1884-1901)
GA 55:  Die Erkenntnis des Übersinnlichen in unserer Zeit und deren Bedeutung für das heutige Leben (1906/1907)
GA 104:  Die Apokalypse des Johannes (1908)
GA 127:  Die Mission der neuen Geistesoffenbarung. Das Christus-Ereignis als Mittelpunktsgeschehen der Erdenevolution (1911)
GA 155:  Christus und die menschliche Seele. Über den Sinn des Lebens. Theosophische Moral. Anthroposophie und Christentum (1912/1914)
GA 172:  Das Karma des Berufes des Menschen in Anknüpfung an Goethes Leben (1916)
GA 175:  Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha. Kosmische und menschliche Metamorphose (1917)
GA 215:  Die Philosophie, Kosmologie und Religion in der Anthroposophie (1922)
GA 254:  Die okkulte Bewegung im neunzehnten Jahrhundert und ihre Beziehung zur Weltkultur. Bedeutsames aus dem äußeren Geistesleben um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts (1915)