Reinkarnation

So wie Francesco Redi (siehe: weiter oben) den Satz vertreten hat: Lebendiges kann nur aus Lebendigem kommen! – so hat Geisteswissenschaft den Satz (zu)vertreten: Geistig-Seelisches kann nur aus Geistig-Seelischem entstehen! Und nichts anderes als eine Folge dieses Satzes ist dasjenige, was man öfters heute belächelt als den Ausfluß einer tollen Phantasie: Das Gesetz von der Wiederverkörperung. [1] In der Regel findet man die Seelen, die jetzt inkarniert sind, um 300 bis 400 nach Christi Geburt. Daneben finden sich andere, die zu verschiedenen Zeiten inkarniert waren, einige vorher, einige später. [2]

Es wird gewöhnlich der Einwand gemacht, daß sich der Mensch nicht erinnere an diese wiederholten Erdenleben. Das betrifft nur das gewöhnliche Bewußtsein. In dem Moment, wo die Intuition eintritt, wird eben dasjenige, was durch die wiederholten Erdenleben abläuft, genau ebenso innere Seelenanschauung, wie sonst die Erinnerung innerhalb des einen Erdenlebens. So ist es auch hier so, daß Anthroposophie nicht wie die gewöhnliche Philosophie durch abstrakte Beweise zu ihren Ergebnissen kommt, sondern dadurch, daß sie die Seele erst vorbereitet zur höheren Erkenntnis und dann diese Dinge durch Anschauung erkennt. [3] Im Schlafe vergißt der Mensch jede Regung des eigenen Leibes, so muß der Mensch jede Regung des eigenen Leibes vergessen in der Meditation, nicht nur in denkerischer Beziehung, sondern so, daß er auch alle Gemütsregungen und Willensregungen abzusondern vermag. Aber bewußt muß dieser Zustand herbeigeführt werden. Dann aber wird dem Menschen etwas zur Tatsache: der Mensch lernt seinen seelisch-geistigen Wesenskern kennen, man lernt, mit anderen Worten, die unsterbliche Seele kennen schon in diesem Leben zwischen Geburt und Tod. So gewiß wie der Pflanzenkeim die Anlage hat, eine neue Pflanze zu werden, so gewiß hat dasjenige, was sich im Alltagsleben als Seelisch-Geistiges verbirgt, was sich aber der Geisteswissenschaft zeigt, die Anlage zu einem neuen Menschen. Und durch eine solche Betrachtung gelangt man in voller Übereinstimmung mit der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart zu den wiederholten Erdenleben. [4]

In vorchristlichen Zeiten ist die Reinkarnation als Gefühl vorhanden gewesen, denn eine Erkenntnis war sie nur vor dem Jahre 1860 vor Christus. Nach dem Jahre 1860 war sie im ganzen Ägypten, in vorderasiatischen, römischen Zeiten nur ein instinktives Gefühl. Jetzt aber kommt die Zeit, wo die Anschauung von dem Menschen als einem geistigen Wesen, das eine Entwickelung durchmacht zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, ein lebendiges Gefühl, eine lebendige Empfindung wird, wo man in der Vorstellung leben muß von der überirdischen Bedeutung der Menschenseelen. Denn ohne diese Vorstellung wird die Kultur der Erde ertötet. Man wird nicht eine praktische Tätigkeit entfalten können in der Zukunft, ohne daß man aufblicken kann zu der geistigen Bedeutung der Tatsache, daß jeder Mensch ein geistiges Wesen ist. [5]

Daß die Reinkarnationslehre während etwa 2 Jahrtausenden ganz unterdrückt wurde, hatte einen besonderen Grund. Der Mensch sollte die Wichtigkeit des einen Lebens kennen und schätzen lernen. Jeder Sklave im alten Ägypten war noch überzeugt davon, daß er wiederkommen werde, daß er einmal Herrscher sein werde statt Sklave, daß er aber Karma abzutragen habe. Darum war ihm das eine Leben nicht so wichtig. Die Menschen sollten aber nun lernen, festen Boden unter den Füßen zu gewinnen, darum sollte während einer Inkarnation die Reinkarnation unbekannt bleiben. Christus hat deshalb geradezu verboten, daß etwas von Reinkarnation gelehrt werden solle.

Innerhalb der Mönchsesoterik ist die Reinkarnation dagegen wohl noch gelegentlich gelehrt worden. Die Trappisten müssen durch eine Inkarnation hindurch schweigen, damit sie in der nächsten gute Redner würden. Sie werden mit Absicht auf diese Weise zu guten Rednern erzogen, denn die Kirche kann diese brauchen. [6] Giordano Bruno hat mit seiner Menschenbetrachtung die Wiederverkörperung des Seelischen als sein Glaubensbekenntnis ausgesprochen. Und gehen wir weiter, so finden wir bei Lessing in der «Erziehung des Menschengeschlechts» diese Lehre von der Wiederverkörperung dargestellt. Auch bei Herder finden wir sie berührt. Wir finden sie endlich in mancherlei Gestalt bei Goethe angedeutet, wenn Goethe auch in seiner vorsichtigen Art sich nicht sehr deutlich ausgesprochen hat. Jean Paul und unzählige andere könnten noch angeführt werden. [7]

Weil der Mensch gewisse Eigenschaften mitbringt (die ihn individualisieren), die ihn ebenso bestimmen wie den Löwen die Gattung bestimmt, so müssen sie auch von dem Individuum selber abgeleitet werden. [8] Einen Anfang haben die wiederholten Erdenleben aber einmal genommen, und zwar von einem Zeitpunkte an, vor dem das Ich von seiner Umgebung noch so wenig verschieden war in uralten Daseinsformen, daß solch ein Wechsel zwischen Erdenleben und geistig-seelischem Leben nicht gegeben war, – daß das Ich wiederholte Erdenleben durchgemacht hat und weiterhin durchmachen wird bis zu einem Zeitpunkte, wo es dann wiederum in seiner ganzen inneren Gestaltung so ähnlich sein wird der geistigen Welt, daß es Erdenleben nicht mehr nötig haben wird. [9] Die Kräfte die in Betracht kommen, wenn von den Gesetzen der Reinkarnation gesprochen wird, sind solche, die gar nicht hereintreten, nicht nur nicht ins Ich-Bewußtsein, sondern gar nicht in den Bereich der gewöhnlichen physischen Welt. [10] Mit dem, was wir mitnehmen durch den Tod hindurch, sind wir imstande, unser nächstes Leben aufzubauen, weil es in sich dieselben Kräfte enthält, die unser geistig-seelisches Wachstum aufgebaut haben, als wir frisch und froh uns in der Jugend entwickelten. Diesen Kräften ist es gleichartig. Wir haben es aus der Lebenserfahrung aufgenommen und bauen uns ein künftiges Lebewesen, eine künftige leibliche Hülle, die das als Blüte in der Anlage in sich tragen wird, was wir in dem einen Leben gewonnen haben. [11] Wenn jemand den Einwand erheben würde: Ich habe spätere Erdenleben vor mir, da brauche ich erst in den späteren Leben ein ordentlicher Mensch zu werden; jetzt habe ich noch Zeit, jetzt kann ich noch ein unordentlicher Mensch sein –, so wäre das ein Einwand, der auch theoretisch zu widerlegen ist. Um sich aber richtig zu ihm zu stellen, dazu gehört, daß man die praktischen Verhältnisse kennt. Man muß wissen, daß jemand, welcher der Ansicht wäre, er brauche in seinem jetzigen Leben noch kein ordentlicher Mensch zu sein, er wolle dies erst im nächsten Leben werden, durch einen solchen Vorsatz in sein nächstes Erdenleben hineingewirkt hat. Wenn er nicht jetzt beschließt, ein ordentlicher Mensch zu werden, so hat er eben auch für das nächste Leben nicht die nötigen Grundlagen dazu. Er benimmt sich also jetzt schon die Fähigkeit, um später ein ordentlicher Mensch zu sein; er schafft sich selbst die Kräfte dafür hinweg. [12]

Wie schwierig es ist, über gewisse geistige Dinge zu sprechen, das sehen Sie daraus, daß manches, weil man es in physische Vorstellungen kleiden muß, sich geradezu in der entgegengesetzten Weise ausnimmt, und man daher sehr leicht Mißverständnissen ausgesetzt ist. Nicht wahr, man sagt, weil man die Sache zunächst von der physischen Welt ansieht, mit Recht: Der Mensch macht wiederholte Erdenleben durch. Das ist richtig. Aber warum macht er wiederholte Erdenleben durch ? Indem er hier zwischen Geburt und Tod lebt, lebt er ein gewisses Stück Zeit durch. Dann geht er durch die Pforte des Todes in die geistige Welt ein, macht einen Umkreis durch, kommt aber in dem Umkreis wiederum auf dasselbe Stück Zeit zurück. Und immer wiederum, wenn wir ein Leben durchleben, sind wir eigentlich an derselben Weltstelle. Das ist sehr interessant ! Im Reiche des Geistes herrscht nicht eigentlich die Zeit, sondern die Dauer. Wir kommen wiederum an dieselbe Stelle zurück. Wir wiederholen tatsächlich in denselben Verhältnissen mit dem, was wir mittlerweile durchgemacht haben, an derselben Stelle der Welt das Leben. Wir gehen immer wiederum zum Ausgangspunkt zurück. Wir vollführen wirkliche Umkreise. [13]

Alle, die hineinschauen können in die Verhältnisse der geistigen Welten, werden die Mehrzahl aller jetzt lebenden Menschenseelen in der ersten Zeit nach Christi Geburt bis in das 8. und 9. Jahrhundert entdecken. Das sind aber alles Durchschnittsverhältnisse; ebenso kann die Zeit zwischen zwei Verkörperungen auch kürzer oder länger dauern. [14]

Was physischen Ursachen entstammt, wird mit unserer Persönlichkeit, mit dem Tode vergehen; das, wofür wir keine physischen Ursachen zu finden vermögen, werden wir als die Wirkung einer früheren Vergangenheit ansehen müssen. [15] (Mehr siehe: Karma).

Zitate:

[1]  GA 58, Seite 52   (Ausgabe 1984, 352 Seiten)
[2]  GA 93a, Seite 61   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)
[3]  GA 82, Seite 200   (Ausgabe 1994, 264 Seiten)
[4]  GA 155, Seite 227f   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)
[5]  GA 196, Seite 161f   (Ausgabe 1966, 305 Seiten)
[6]  GA 93a, Seite 65f   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)
[7]  GA 52, Seite 343   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)
[8]  GA 53, Seite 74   (Ausgabe 1981, 508 Seiten)
[9]  GA 82, Seite 132   (Ausgabe 1994, 264 Seiten)
[10]  GA 73, Seite 49   (Ausgabe 1973, 398 Seiten)
[11]  GA 60, Seite 56   (Ausgabe 1983, 496 Seiten)
[12]  GA 62, Seite 76f   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)
[13]  GA 168, Seite 216f   (Ausgabe 1968, 230 Seiten)
[14]  GA 100, Seite 94   (Ausgabe 1981, 276 Seiten)
[15]  GA 52, Seite 24   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)

Quellen:

GA 52:  Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung (1903/1904)
GA 53:  Ursprung und Ziel des Menschen. Grundbegriffe der Geisteswissenschaft (1904/1905)
GA 58:  Metamorphosen des Seelenlebens – Pfade der Seelenerlebnisse. Erster Teil (1909/1910)
GA 60:  Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins (1910/1911)
GA 62:  Ergebnisse der Geistesforschung (1912/1913)
GA 73:  Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie (1917/1918)
GA 82:  Damit der Mensch ganz Mensch werde. Die Bedeutung der Anthroposophie im Geistesleben der Gegenwart (1922)
GA 93a:  Grundelemente der Esoterik (1905)
GA 100:  Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis. Theosophie und Rosenkreuzertum – Das Johannes-Evangelium (1907)
GA 155:  Christus und die menschliche Seele. Über den Sinn des Lebens. Theosophische Moral. Anthroposophie und Christentum (1912/1914)
GA 168:  Die Verbindung zwischen Lebenden und Toten (1916)
GA 196:  Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung (1920)