Psychoanalyse

In der Familie, in der ich so (als Hauslehrer) lebte, lernte ich auch den ausgezeichneten Arzt kennen, Dr. Breuer, der mit Dr. Freud zusammen bei der Geburt der Psychoanalyse stand. Er hatte aber nur im Anfange diese Anschauungsart mitgemacht, und war wohl mit deren späterer Ausbildung durch Freud nicht einverstanden. Dr. Breuer war für mich eine anziehende Persönlichkeit. Die Art, wie er im ärztlichen Berufe drinnen stand, bewunderte ich. Dabei war er auch in andern Gebieten ein vielseitig interessierter Geist. [1] Diese Psychoanalyse kenne ich (also) ungefähr, seit sie geboren ist. Sie ist begründet in ihren ersten Anfängen unter dem Einflusse eines sehr geistvollen Arztes, mit dem ich in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts befreundet war, von Josef Breuer; wenn er auch, nachdem die Psychoanalyse auf Abwege geraten war, sich von ihr zurückgezogen hat: die ersten Anfänge rühren her von Breuer, der ein sehr bedeutsamer Arzt war. Sie ist nicht das geworden, was sie unter Breuer geworden wäre. Und so ist sie eigentlich geworden dasjenige, was sie werden mußte im materialistischen Zeitalter. [2]

Der römische Kaiser Nero war im Grunde genommen der erste Psychoanalytiker, denn er vertrat zuerst den Satz, daß alles im Menschen von der Libido abhängt, daß, was auch im Menschen auftritt, abhängt von dem, was als das Sexuelle in ihm wirkt – eine Lehre, die philiströs die Psychoanalytiker in unserem Zeitalter wiederum erneuert haben. [3] Aber oftmals wirken halbe oder Viertelswahrheiten viel schlimmer als vollständige Irrtümer. Und eine solche halbe oder Viertelswahrheit liegt zugrunde der Psychoanalyse. Die Menschen suchen, aber sie suchen tappend. Sie ahnen, daß auf dem Grunde der Seele mancherlei verborgen ist, aber sie können sich nicht entschließen, wirklich die Schritte in die geistige Welt hinein mitzumachen, um dasjenige zu finden, was auf dem Grunde der Seele verborgen ist.

Was sagen heute die Psychoanalytiker? Sie sagen: Wenn ein Mensch uns so im Leben entgegentritt, dann ist sein Gesamtbefinden vielfach abhängig nicht nur von dem, was in seinem Bewußtsein ist, sondern von einer ganzen Reihe von Faktoren, die im Unbewußten sitzen, unter der Schwelle des Bewußtseins. Da kommt ein Mensch, fühlt gewissermaßen seine Stimmung herabgedrückt. Eine Unregelmäßigkeit in seinem ganzen nervösen Apparat tritt auf. Man muß, meint der Psychoanalytiker, dann nachsehen, was der Mensch vielleicht vor vielen Jahren erlebt hat, was er als Erlebtes nicht ganz verarbeitet hat, sondern hinuntergedrückt hat in das Unterbewußtsein. Aber weil es vergessen ist, ist es deshalb nicht nicht da. Nun geht er davon aus: Wenn man es herauflockt ins Bewußtsein durch eine Art Katechisierung, dann kommt man darauf, was da unten frißt und zehrt. Dann sucht unten in der Tiefe des Seelenlebens der Psychoanalytiker außer den zerstörten Lenzeshoffnungen des Lebens, außer dem «animalischen Grundschlamm» des Lebens, dasjenige, was als animalischer Grundschlamm des Lebens fortwährend heraufwirkt, der Zusammenhang mit alldem, was der Mensch als animalisches, als tierisches Wesen hat und was in sein seelisches Leben hereinspielt, und solche analytischen Psychologen, die weitergehen, die sagen: Wenn man da nun immer weiter und weiter hinunterdringt, dann findet man endlich dasjenige, was in der Seele heraufspielt von Rassenzusammenhang, von Nationenzusammenhang und so weiter, was auf mehr oder weniger unbewußte Weise in die Seelen hereinspielt, endlich aber ganz unten das Dämonische, das Allerunbestimmteste, was unter dem animalischen Grundschlamm liegt. Leise deuten dann solche Menschen oftmals an, daß in diesen dämonischen Tiefen unten diejenigen Impulse sind, welche zur Gnosis, zur Theosophie, zur Anthroposophie führen und dergleichen. [4]

Aber (in) alles, was da auf dem Grunde der Seele lebt an Realitäten, wirkt (vieles) herein aus dem Reich der Toten. Dann werden wir nicht suchen nach dem animalischen Grundschlamm der Seele oder nach der verschlagenen Erotik für irgendeine Seelenstimmung, sondern wir werden oftmals die Ursache für eine Seelenstimmung zu suchen haben bei dem oder jenem Fortgegangenen, dem wir Schwierigkeiten machen durch unser eigenes Verhalten, und diese Schwierigkeiten drücken sich aus dadurch, daß sich ins Bewußtsein diese oder jene Unbefriedigtheiten heraufdrängen. Kurz, wir werden gut tun, wenn wir in einer pietätvollen, heiligen Weise den Zusammenhang uns ins Bewußtsein bringen, der nicht bloß besteht zwischen unserer Welt, sondern der realen geistigen Welt, worinnen diejenigen, die durch die Pforte des Todes gegangen sind, reale Wesenheiten sind, die mit uns sind, so wie sie im Leben waren, nur daß dasjenige, was sie mit uns zusammen wirken, viel näher unserer Seele geht als das, was sie im Leben gewirkt haben, wo wir immer durch unseren und ihren Leib getrennt waren, der wie eine Barriere zwischen uns stand. [5]

Man kann, wenn man den Menschen katechisiert, gewisse Dinge finden, die er in seinem Seelenleben hat, die einfach nicht verarbeitet sind und die verheerend wirken in den Organen, die schon zu alt geworden sind für diese Verarbeitung. Aber das Wichtige ist, daß man auf diesem Wege niemals zu einer Therapie, sondern nur zu einer Diagnose gelangen kann. Hält man es dabei, daß man die Psychoanalyse nur als Diagnose verwendet, dann tut man ja eigentlich etwas, was in gewisser Art berechtigt ist, wenn es taktvoll ausgeführt wird. [6]

(Aus naturwissenschaftlichen Vorurteilen heraus) wird man niemals einsehen, daß dasjenige, was man da findet im Seelenleben, durchaus nicht in der richtigen Weise analysiert werden kann, wenn man nicht weiß, daß das Menschenleben in wiederholten Erdenleben abläuft. Denn man sucht ja in der Psychoanalyse alles das, was auf dem Grunde der Seele ist, aus dem einen Erdenleben zu erklären. Kein Wunder, daß man es dann in viel schiefe Lichter stellen muß. Derjenige, der zum Beispiel auf dem Grunde der Seele gescheiterte Lebenspläne findet, der müßte erst untersuchen, was solches Scheitern eines Lebensplanes im Gesamtleben des Menschen, das durch wiederholte Erdenleben geht, für eine Bedeutung hat. Er würde dann vielleicht finden, daß auch im Unterbewußtsein ruhend gewisse Seiten dieses Menschenlebens wirksam sind, welche gerade schicksalsmäßig verhindert haben, daß der betreffende Lebensplan zur Ausführung gekommen ist, und dann würde er bemerken, daß dieser gescheiterte Lebensplan, der da noch in den Untergründen der Seele ist, nicht bloß bestimmt ist, den Menschen für diese Inkarnation krank zu machen, sondern bestimmt dazu ist, durchgetragen zu werden, wenn dieses Leben zu Ende ist, durch die Pforte des Todes, zur Kraft zu werden in dem Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, um im nächsten Erdenleben erst die rechte Rolle zu spielen. Für solch einen gescheiterten Lebensplan kann es gerade notwendig sein, im Leben zunächst in den Untergründen der Seele bewahrt zu werden, damit er sich erkraften, sich steigern kann und dann die richtige Gestalt gewinnen kann zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, damit er die ihm vorbestimmte Form annehmen kann im nächsten Erdenleben, die er vermöge anderer Eigenschaften im Seelenleben eben nicht hat annehmen können in diesem Erdenleben. Nicht darum handelt es sich, den animalischen Grundschlamm zu untersuchen, sondern dasjenige, was als seelischer Keim in diesem animalischen Grundschlamm eingebettet ist. [7] Daher ist die Psychoanalyse so gefährlich, weil sie zwar zu dem Unterbewußten hinuntergeht, aber statt des seelisch-geistigen Wesenskernes den animalischen Grundschlamm sieht, wie wenn man nicht die keimende Saat, sondern nur den Mist sieht. [8] Nun soll gar nicht geleugnet werden, daß dieser Grundschlamm vorhanden ist. Ich selber habe schon aufmerksam gemacht, wie gewisse Mystiker Erlebnisse haben dadurch, daß irgend etwas, sei es zum Beispiel die Erotik, raffiniert gemacht wird und heraufspielt in das Bewußtsein, so daß man glaubt, ganz besonders erhabene Vorgänge zu haben, während nur die Erotik, der animalische Grundschlamm der Seele, heraufschlägt und ausgedeutet wird manchmal im tief mystischen Sinne. Man kann noch bei einer so poetisch feinen Mystikerin wie Mechthild von Magdeburg nachweisen, wie bis in die Einzelheiten der Vorstellungen hinein das erotische Empfinden geht.

Zwischen dem, was man nur beobachten kann im Seelischen, so wie es die Psychologen tun, die bloß auf das Bewußtsein gehen, und dem, was der Psychoanalytiker unten im animalischen Grundschlamm der Seele findet, da liegt das Gebiet, das dem Geistig-Seelisch-Ewigen angehört, das durch Geburten und Tode geht. [9]

Man wird immer mehr und mehr das menschliche soziale Leben seines spirituellen Charakters entkleiden wollen und es aufbauen wollen auf rein äußeren sinnlichen und sinnlich-natürlichen Verhältnissen. Unter dem Einflusse dieses Triebes ist ja auch die Psychoanalyse entstanden. Man kann nämlich den Blick der Untersuchung und die Aufmerksamkeit zwar bloß lenken auf das physisch-sinnliche Geschehen. Aber in dem physisch-sinnlichen Geschehen, das sich in Verwandlung und Geburt ausdrückt und das in der Glückseligkeit, in der Nützlichkeit angestrebt wird, darinnen sprechen sich deshalb doch okkulte Kräfte aus, liegt doch okkultes Streben. Aber durch die Art, wie man mit Verleugnung des Spirituellen sich doch dem Spirituellen nähert durch diesen Pol, kommt man in die Nähe von gewissen geistigen Wesenheiten, die wirken, trotzdem man sie nicht schauen will, trotzdem man sie nicht berücksichtigen will, die hereinwirken in das Bestreben der Wissenschaft, in das Bestreben des Aufstellens sozialer Ideale. Das aber sind Wesenheiten, von denen gesagt werden muß, daß ihre höheren Fähigkeiten eine gewisse Ähnlichkeit haben mit den niederen Triebfähigkeiten der Menschen. Daher werden die niederen Fähigkeiten des Menschen durch diese Verwandtschaft angeregt, und daher ist es auch, daß die Psychoanalyse, die doch aus materiellen Anschauungen heraus entspringt, eigentlich handelt unter dem Einflusse von solchen Wesenheiten, die hauptsächlich anregen den Blick für die Berücksichtigung des niederen Trieblebens. [10]

Das Kindhafte besteht darinnen, daß nicht nur in instinktiver Weise durch die Kopforganisation die Verhältnisse der Umwelt erlebt werden, sondern die Kopforganisation lebt im Stoffwechsel intensiv dasjenige mit, was sein Verhältnis zur Außenwelt ist. Wenn das Kind Farben sieht, so geschehen in ihm lebhafte Stoffwechselvorgänge. Das Kind konsumiert gewissermaßen die äußeren Eindrücke auch bis in seinen Stoffwechsel hinein. Bei dem Kinde haben wir das ganze Leben erfüllt von einer Sensitivität des vegetativ-organischen Prozesses. Gewisse Individuen können die Kindhaftigkeit in das spätere Leben hineintragen. Dann behalten sie eben die Eigenschaft, daß sie das äußere Erleben mit ihren organischen Prozessen verbinden. [11] Und wenn dann das erlebende Individuum die Kindhaftigkeit, das heißt, dieses Konsumieren der Außenwelt in sich lebendig erhalten hat, dann wird bei einem solchen Individuum etwas von Rumoren im vegetativen Organismus zurückbleiben, wenn ihm das Erleben entzogen wird, wenn es also das, woran sich innere Prozesse entwickelt haben, nicht mehr äußerlich erleben kann. Der Mensch wird dadurch unbefriedigt, moros, hypochondrisch, bekommt alle möglichen Folgezustände. Geht man dem nach, so findet man, daß ihm irgend etwas durch das Leben oder durch Sonstiges entzogen ist, was eigentlich schon in den vegetativ-organischen Prozessen sein Korrelat gefunden hat. Wenn ein solcher Mensch mit seinem Bewußtsein auf die Außenwelt hinschaut, kann er sich nicht mehr die Befriedigung verschaffen für das, was in seinem Organismus drinnen rumort. Es geht etwas in seinem Organismus vor, was eigentlich außen angeschaut oder wenigstens gedacht sein will, und was er nicht denken kann, weil die Veranlassung dazu nicht da ist. Wir finden lebenspraktische Leute, die haben die Eigentümlichkeit, daß sie instinktiv solche Dinge aus dem Menschen herauswittern, wenn er sie hat, und dann finden sie die Möglichkeit, allerlei zu ihm zu sprechen, was diese Dinge aus den unbestimmten Tiefen des Vegetativ-Organischen heraufbringt und sie ins Vorstellungsleben erhebt, so daß der Mensch das denken kann, vorstellen kann, was er eigentlich zu denken, vorzustellen begehrt. Wer das Leben beobachten kann, wird unzählige solche Zusprüche im Leben finden, wo einfach ein vegetativ-organischer Inhalt, der aus früherer Enttäuschung, aus einem früheren Entziehen eines Lebensinhaltes herrührt, dadurch geheilt, abgeleitet wird; daß man wenigstens in dem Eindringlichen der menschlichen Zusprache an den Menschen herantritt und auch in sein Bewußtseinsleben einführt, was er braucht. Da es in der Gegenwart durch die besondere Artung unserer Zivilisation wirklich recht viele Individuen gibt, welche ihr Kindhaftes in ihr Reifealter hereinspielen haben, so hat man das, was ich jetzt anführe, in leichten und schweren Fällen viel bemerkt. Während man im gewöhnlichen Leben nicht viel Aufsehens damit macht, von Zuspruch spricht, der in liebevoller Hingabe der einen Person an die andere manches Heilsame bewirken kann, hat man das auch einfließen lassen, in vieler Beziehung mit Recht einfließen lassen in die wissenschaftlich-psychologische Betrachtungsweise. Man untersucht dann den betreffenden Menschen. Und aus seinem bisherigen Lebenslauf, den man durch Beichten oder durch die Träume, die er hat, oder durch sonst etwas auskundschaftet, findet man, was nötig ist, um dem Menschen dasjenige ins Bewußtsein überzuführen, was eben vom unterbewußten Vegetativ-Organischen begehrt wird. Man nennt das dann analytische Psychologie oder Psychoanalyse. Man spricht dann, selbstverständlich wissenschaftlich sich ausdrückend, von «verborgenen Seelenprovinzen». Es sind nicht verborgene Seelenprovinzen, sondern es sind vegetativ-organische Prozesse, die in der geschilderten Weise zurückbleiben, die nach Erfüllung von außen begehren. Und man sucht nach dem, was man dem Menschen als eine solche Erfüllung bieten kann. Man sagt: Man sorgt für die Abreagierung solcher verhaltener Prozesse. – Sehen Sie, in dem, was ich eben angedeutet habe, liegt das Berechtigte der Psychoanalyse. [12]

Eigentlich ist diese ganze Analysiererei nichts anderes als ein Aufzeigen, wie stark die schlauen, die listigen Elementargeister in allerlei Unterstübchen der Menschen wirken. Ahnungslos sind manche Gemüter diesen Erscheinungen gegenüber, weil sie eben selber von dem allmählich automatisch gewordenen Verstande wie er in der Wissenschaft wirkt, suggestiv beeinflußt werden [13]

Zitate:

[1]  GA 28, Seite 195   (Ausgabe 1962, 520 Seiten)
[2]  GA 309, Seite 96   (Ausgabe 1981, 112 Seiten)
[3]  GA 175, Seite 270f   (Ausgabe 1982, 416 Seiten)
[4]  GA 168, Seite 208f   (Ausgabe 1968, 230 Seiten)
[5]  GA 168, Seite 210   (Ausgabe 1968, 230 Seiten)
[6]  GA 312, Seite 308   (Ausgabe 1976, 392 Seiten)
[7]  GA 172, Seite 103ff   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[8]  GA 174b, Seite 249   (Ausgabe 1974, 398 Seiten)
[9]  GA 66, Seite 180ff   (Ausgabe 1961, 269 Seiten)
[10]  GA 171, Seite 265f   (Ausgabe 1964, 376 Seiten)
[11]  GA 303, Seite 68f   (Ausgabe 1978, 368 Seiten)
[12]  GA 303, Seite 70ff   (Ausgabe 1978, 368 Seiten)
[13]  GA 255b, Seite 361f   (Ausgabe 2003, 622 Seiten)

Quellen:

GA 28:  Mein Lebensgang (1923-1925)
GA 66:  Geist und Stoff, Leben und Tod (1917)
GA 168:  Die Verbindung zwischen Lebenden und Toten (1916)
GA 171:  Innere Entwicklungsimpulse der Menschheit. Goethe und die Krisis des neunzehnten Jahrhunderts (1916)
GA 172:  Das Karma des Berufes des Menschen in Anknüpfung an Goethes Leben (1916)
GA 174b:  Die geistigen Hintergründe des Ersten Weltkrieges (1914-1921)
GA 175:  Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha. Kosmische und menschliche Metamorphose (1917)
GA 255b:  Die Anthroposophie und ihre Gegner (1919-1921)
GA 303:  Die gesunde Entwickelung des Menschenwesens. Eine Einführung in die anthroposophische Pädagogik und Didaktik (1921/1922)
GA 309:  Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen (1924)
GA 312:  Geisteswissenschaft und Medizin (1920)