Prometheus

Der Eingeweihte machte dem Ägypter klar: Der Ich-bewußte Mensch ist gefesselt worden an den Erdenkörper, das heißt, gefesselt an den physischen Leib – und in der Evolution ist etwas entstanden, was nagt an seiner Unsterblichkeit. Die Funktionen, welche die Leber bewirkt haben sind dadurch entstanden, daß der Leib geschmiedet wurde an den Felsen der Erde. Da nagt der Astralleib daran. Das ist das Bild, das in Ägypten dem Schüler gegeben wurde, und das herübergewandert ist nach Griechenland als die Prometheussage. [1] Der Mensch hat sich seine Freiheit dadurch erkauft, daß sich seine Natur verschlechterte, weil er mit der Inkarnierung wartete, bis seine Natur heruntergestiegen ist in die dichteren physiologischen Zustände. In der griechischen Mythologie hat sich ein tiefes Bewußtsein von diesem Tatbestand erhalten. Wäre der Mensch schon früher zur Inkarnation gekommen, dann wäre das eingetreten, was Zeus wollte, als sich die Menschen noch im Paradiese befanden: Er wollte sie glücklich machen, aber als unbewußte Wesen. Das klare Bewußtsein hätte dann einzig bei den Göttern gelegen. Die Auflehnung des Luzifergeistes, des Devageistes in der Menschheit, der heruntersteigen wollte, um sich aus der Freiheit heraus selbst emporzuentwickeln, ist symbolisiert in der Sage von Prometheus. Er aber muß sein Bestreben büßen dadurch, daß fortwährend ein Adler – als Symbol der Begierde – an seiner Leber nagt. Den Repräsentanten der in Freiheit durch Kämpfe zur Kultur strebenden Menschheit hat die griechische Mythologie in Prometheus symbolisiert. Derjenige, der des Prometheus Befreiung herbeiführt, ist Herakles, von dem uns erzählt wird, daß er sich in die Mysterien von Eleusis einweihen ließ. [2]

Ein Geier nagt dem Prometheus an der Leber. Kama (Begierde) nagt dem Prometheus an der Leber. Kama ist symbolisiert in dem Geier, (der) eigentlich wirklich die Kräfte der 5. Rasse verzehrt. Und so nagt diese Kraft der 5. Rasse an der eigentlichen Lebenskraft des Menschen, weil der Mensch gefesselt ist an die mineralische Natur. Deshalb muß der Mensch seine eigene Natur bezwingen, damit er nicht mehr angeschmiedet ist an das Mineralische. Nur diejenigen, welche während der 5. Wurzelrasse als menschliche Eingeweihte entstehen, können den gefesselten Menschen die Befreiung bringen. Opfern muß sich der Mensch, der noch im Zusammenhang ist mit dem Tierischen: der Kentaur Chiron. Der Mensch der Vorzeit muß geopfert werden. Das Opfer des Kentauren ist für die Entwickelung der 5. Rasse ebenso wichtig wie die Befreiung durch die Initiierten der 5. Rasse. So stellen uns die Sagen die großen kosmischen Wahrheiten dar. Der Geier frißt wirklich an der Leber. Das ist ganz wörtlich zu nehmen. Es ist der Kampf des Magens mit der Leber. In jedem einzelnen Menschen wiederholt sich während der 5. Wurzelrasse dieser promethische Leidenskampf. Wäre dieser Kampf nicht da, dann wäre das Schicksal der 5. Rasse ein ganz anderes. [3] Ein Geier nagt an der Leber, nicht etwa darum, weil das dem Prometheus einen besonders tiefen Schmerz verursachen soll; denn in diesem Falle würde die Sage nicht stimmen mit den wirklichen Tatsachen! Der Geier nagt an der Leber, weil es nicht wehtut. Es sollte darauf hingewiesen werden, daß Prometheus der Menschheit etwas brachte, was sie tiefer hineinverstricken könnte in das Ahrimanische, wenn nicht die gegenteilige, ausgleichende Wirkung geschehen könnte. Die Leber ist ein Organ, das am leichtesten für das Hineingleiten des Menschen in die physisch-illusorische Welt wirksam sein kann. Und die Leber ist zugleich das Organ, das uns eigentlich an die Erde kettet. [4]

Prometheus kann nur befreit werden durch das Eingreifen eines Eingeweihten, eines Initiierten. Und ein solcher Initiierter war der Grieche Herakles – Herakles, der die 12 Initiationsarbeiten, symbolisch ausgedrückt, verrichtet hatte. Außerdem wird von Herakles gesagt, daß er sich in die Mysterien von Eleusis habe einweihen lassen. – Es mußte sich aber noch jemand opfern, und es opferte sich für Prometheus der Kentaur Chiron. Der litt schon an einer unheilbaren Krankheit. In dieser Sage liegt die ganze Geschichte der 5. Wurzelrasse. In den Mysterien wurde sie auch wirklich dargestellt, so daß der Mysterienschüler vor sich das Schicksal des Prometheus sah. Und in diesem sollte er die Vergangenheit und Zukunft der ganzen 5. Wurzelrasse sehen. Prometheus ist der Repräsentant der ganzen 5. Wurzelrasse. Sein Bruder ist Epimetheus, das heißt der Nachdenkende. Der nachdenkende Mensch ist derjenige, welcher die Dinge dieser Welt auf sich wirken läßt und dann hinterher denkt. Ein solches Denken ist das Kama-Manas-Denken (Denken der Verstandesseele). Der Mensch denkt heute noch hauptsächlich wie Epimetheus. Insofern aber der Mensch nicht das, was schon da ist, auf sich wirken läßt, sondern Erfinder und Entdecker ist, insofern ist er ein Prometheus, ein Vordenker. Dieses Prometheusdenken ist innerhalb der 5. Wurzelrasse das manasische Denken. Der Geist des atlantischen Menschen bezwang noch die lebendige Natur, die Samenkraft. Der Geist der 5. Wurzelrasse kann nur die leblose Natur, die im Stein, in den Mineralien liegenden Werdekräfte besiegen. So ist das Manas der 5. Wurzelrasse gefesselt an die mineralischen Kräfte, wie die atlantische Rasse gebunden war an die Lebenskräfte. Alle Prometheuskraft ist gefesselt an den Felsen. Wenn das Manasische angewendet wird auf das Unorganische, ist es trotzdem im großen und ganzen der menschliche Egoismus, das menschliche persönliche Interesse, wozu alle diese ganzen Kräfte der Erfindungen und Entdeckungen der 5. Wurzelrasse zuletzt angewendet werden. Opfern muß sich der Mensch, der noch im Zusammenhang ist mit dem Tierischen: der Kentaur Chiron.

Man hat sich nun vorzustellen unter den drei Göttergeschlechtern Uranos, Kronos, Zeus, drei aufeinanderfolgende führende Wesenheiten der Menschen. Kronos wird der Herrscher des zweiten Göttergeschlechts von der Mitte der lemurischen Zeit an bis herein in den Anfang der atlantischen Zeit, und dann gingen sie über auf Zeus. Zeus ist aber noch einer derjenigen Führer, welche ihre Schule nicht auf der Erde durchgemacht haben, er ist noch einer, der zu den Unsterblichen gehört. Die sterbliche Menschheit soll sich während der 5. Rasse auf eigene Füße stellen. Diese Menschheit wird repräsentiert durch den Prometheus. Sie erst brachte die menschlichen Künste und die Urkunst des Feuers. Auf sie ist Zeus eifersüchtig, da die Menschen heranwachsen zu ihren eigenen Eingeweihten, die in der 6. Wurzelrasse die Führung in die Hand nehmen werden. Das muß sich die Menschheit aber erst erkaufen. Daher muß ihr Ureingeweihter die ganzen Leiden zunächst auf sich nehmen. Prometheus ist der Ureingeweihte der 5. Wurzelrasse, derjenige, der nicht nur in die Weisheit, sondern auch in die Tat eingeweiht ist. Er macht die ganzen Leiden durch und wird befreit durch denjenigen, der heranreift, um die Menschheit allmählich frei zu machen und sie hinauszuheben über das Mineralische. [5]

Prometheus war ein Sprößling der Titanen; er hat aber doch im Kampf gegen die Titanen an der Seite des Zeus gestanden. Als auf der Erde, so erzählt die Sage weiter, Zeus die Herrschaft angetreten hat, da war das Menschengeschlecht so weit, daß es in einen anderen Gang kam, daß die alten Fähigkeiten, die die Menschen der Urzeit hatten, immer dumpfer und dumpfer wurden. Zeus wollte die Menschen ausrotten, wollte ein anderes Geschlecht auf die Erde bringen. Prometheus aber beschloß, den Menschen ihre Fortentwickelung möglich zu machen. Prometheus brachte den Menschen die Möglichkeit der Sprache, der Erkenntnis der äußeren Welt, der Schrift und endlich auch des Feuers, so daß das Menschengeschlecht durch die Handhabung von Schrift und Sprache, durch die Handhabung des Feuers aus seinem Niedergange sich wieder erheben konnte. Nun steht mit all dem, was dargestellt wird als der Menschheit Geschenk durch Prometheus, in Verbindung, wenn wir die Sache tiefer betrachten, das menschliche Ich. Und verstehen wir die griechische Sage richtig, so müssen wir sagen: da wird uns Zeus vorgeführt als eine göttliche Kraft, welche beseelt und durchgeistigt solche Menschen, bei denen das Ich noch nicht zum Ausdruck gekommen ist. In bezug auf seinen Astralleib, in bezug auf dasjenige, was ohne das Ich im Menschen ist, da ist Zeus der Schenker, der Geber. Er beschloß, das Menschengeschlecht auszurotten, weil er nicht fähig war, das Ich zur Entwickelung zu bringen. Prometheus bringt mit all den Gaben, die er gibt, die Fähigkeit, zum Ich sich zu erziehen. Das ist der tiefere Sinn dieser Sage. Prometheus also ist derjenige, der den Menschen es möglich macht, das Ich auf sich selbst zu stellen, es immer reicher und voller zu machen. Wenn das Ich nur diese eine Eigenschaft ausbilden würde, dann würde es mit der Zeit doch verarmen; denn es würde sich abschließen von der Außenwelt. Prometheus konnte den Menschen nur die eine Gabe bringen, dadurch mußte Prometheus herausfordern gerade diejenigen Mächte, welche aus dem ganzen Weltendasein heraus das Ich in der richtigen Weise dämpfen, damit es selbstlos werden kann, damit es auch die andere Seite ausbilden kann. [6]

Was beim einzelnen Menschen der Zorn wirklich bewirkt auf der einen Seite, daß er das Ich auf sich selbst stellt, daß er den Stachel aus ihm ersprießen läßt, der es entgegenstellt einer ganzen Welt, und was der Zorn auf der anderen Seite bewirkt dadurch, daß er das Ich zu gleicher Zeit herabdämpft, der Mensch durch diesen Affekt sozusagen in sich selber den Zorn hineinfrißt, das Ich dumpfer wird, das wird weltgeschichtlich dargestellt in dem Kampf zwischen Prometheus und Zeus. Prometheus bringt dem Ich die Fähigkeiten, durch die es immer reicher und reicher wird. Dasjenige, was Zeus nun zu tun hat, das ist zu wirken so, wie im einzelnen Menschen der Zorn wirkt. Daher kommt über das, was Prometheus wirkt, der Zorn des Zeus und löscht die Macht des Ich in Prometheus aus. So sehen wir durch den Zorn des Zeus niedergedämpft den Repräsentanten des menschlichen Ich. So wie das einzelne Ich des Menschen herabgedämpft wird, in sich selber hineingebracht wird, wenn es diesen Zorn in sich selber verbirgt, wie es dadurch auf das richtige Maß heruntergebracht wird, so wird Prometheus durch den Zorn des Zeus angeschmiedet, das heißt, in seiner Tätigkeit auf das richtige Maß zurückgeführt. Wie es angeschmiedet wird, indem der Zorn das Ich-Bewußtsein hinunterdrängt, so wird das Ich des Prometheus am Felsen angeschmiedet. Das ist das Eigentümliche der Sage, daß sie den Menschen in Bildern anschauen läßt dasjenige, was in der eigenen Seele erlebt werden soll. Und dann hören wir weiter, wie Prometheus weiß, daß Zeus wird verstummen müssen mit seinem Zorn, wenn er gestürzt wird durch den Sohn einer Sterblichen. Aus dem sterblichen Menschen heraus wird geboren werden – wie das Ich entfesselt wird durch die Mission des Zornes auf einer unteren Stufe – das Ich auf einer höheren Stufe, das unsterbliche Ich. Wie Zeus abgelöst wird durch ChristusJesus, so wird das einzelne Ich, das gefesselt wird durch den Zorn, nach dem umgewandelten Zorn in das liebende Ich verwandelt, in die Liebe, die der verwandelte edle Zorn ist. [7]

Wir sitzen mit unserer Seele gründlicher im Physischen fest als der Grieche, der das vorausahnte, und der gerade solche großen Ahnungen in seiner Mythologie wunderbar zum Ausdruck brachte. Unseren modernen Menschen sah der Grieche voraus. Aber er sah ihn als den an den Felsen des Knochensystems, an das Ahrimanische geschmiedeten Prometheus. Er sah ihn imaginativ voraus. Und das, was in das Ahrimanische hineinsausen will, das will uns noch stärker und immer stärker an den Felsen der Verknöcherung schmieden. [8]

Zitate:

[1]  GA 106, Seite 138   (Ausgabe 1978, 180 Seiten)
[2]  GA 93, Seite 27   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[3]  GA 93, Seite 55ff   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[4]  GA 120, Seite 144   (Ausgabe 1975, 230 Seiten)
[5]  GA 92, Seite 61uf   (Ausgabe 1999, 198 Seiten)
[6]  GA 58, Seite 71f   (Ausgabe 1984, 352 Seiten)
[7]  GA 58, Seite 73ff   (Ausgabe 1984, 352 Seiten)
[8]  GA 192, Seite 179f   (Ausgabe 1964, 403 Seiten)

Quellen:

GA 58:  Metamorphosen des Seelenlebens – Pfade der Seelenerlebnisse. Erster Teil (1909/1910)
GA 92:  Die okkulten Wahrheiten alter Mythen und Sagen. Griechische und germanische Mythologie. Über Richard Wagners Musikdramen (1904-1907)
GA 93:  Die Tempellegende und die Goldene Legende. als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen (1904/1906)
GA 106:  Ägyptische Mythen und Mysterien. im Verhältnis zu den wirkenden Geisteskräften der Gegenwart (1908)
GA 120:  Die Offenbarungen des Karma (1910)
GA 192:  Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen (1919)