Platos Ideen

Wenn heute der Mensch spricht von Ideen, Idealen, dann meint er eigentlich etwas durchaus Abstraktes, etwas ganz Gedankliches, Begriffliches. Wenn Plato von Ideen sprach, war das so nicht der Fall. Wenn Plato von Ideen sprach, war dies etwas Anschauliches, etwas Konkretes. Und die heutigen Plato-Leser haben eigentlich eine ganz falsche Vorstellung, wenn sie den Plato übersetzen in die gewöhnliche begriffliche Sprache. Um den Plato wirklich zu verstehen, muß man ein viel anschaulicheres, ich möchte sagen, körperhaft-anschauliches Vorstellungsvermögen entwickeln, als man das heute eigentlich in der Lage ist. Also es handelt sich durchaus darum, daß wir nicht bei der Beurteilung fernabliegender Zeitepochen uns mißverstehen dadurch, daß wir die heutigen Begriffe in diese Zeitepochen hineintragen. Das heutige Plato-Lesen, das heutige Aristoteles-Lesen ist in der Regel schon ein Verabstrahieren der alten Meister. Es beginnt erst in der Mitte des Mittelalters, möchte ich sagen, diejenige Zeit, wo man Plato und Aristoteles so aufgefaßt hat, namentlich Aristoteles, wie das heute noch üblich ist; während man sehr darauf achten sollte, daß ja Plato zum Beispiel dasjenige, was er gegeben hat, selbst in unmittelbar vollmenschlicher Weise vorgetragen hat. Er wollte gar nicht so Theorien, Satz für Satz entwickeln, wie wir heute; er wollte die Leute miteinander sprechen lassen, er wollte menschliche Kräfte aufeinanderprallen lassen. [1] Das sind nicht die abstrakten Ideen, von denen der heutige Mensch faselt, das sind Geistwesen selber, zu denen Plato aufschaut, indem er von Ideen spricht. [2] Die Ideen bei Plato – die ja viel lebensvoller, wesenhafter sind als die mittelalterlichen scholastischen Ideen – Nachkommen waren der alten, persischen Archangeloiwesen, die als Amshaspands wirkten und lebten im Universum. Das waren sehr reale Wesenheiten. Bei Plato waren sie schon vernebelt und bei den mittelalterlichen Scholastikern verabstrahiert. Das war ein letztes Stadium zu dem (ursprüngliches) altes Hellsehen gekommen war. [3]

Man darf sich nicht vorstellen, daß Idee bei Plato dasselbe abstrakte Ungetüm ist, was für uns heute Ideen sind, wenn wir dem gewöhnlichen Bewußtsein huldigen. Für Plato war die Idee fast etwas von dem, was die persischen Götter Amshaspands waren, die dem Ahura Mazdao als wirkende Genien zur Seite standen; wirkende Genien, die in imaginativer Anschauung nur erreichbar waren, das waren für Plato eigentlich die Ideen: wesenhaft. [4]

Zitate:

[1]  GA 307, Seite 257f   (Ausgabe 1973, 284 Seiten)
[2]  GA 188, Seite 117   (Ausgabe 1982, 262 Seiten)
[3]  GA 220, Seite 164   (Ausgabe 1966, 214 Seiten)
[4]  GA 238, Seite 155   (Ausgabe 1960, 184 Seiten)

Quellen:

GA 188:  Der Goetheanismus, ein Umwandlungsimpuls und Auferstehungsgedanke. Menschenwissenschaft und Sozialwissenschaft (1919)
GA 220:  Lebendiges Naturerkennen. Intellektueller Sündenfall und spirituelle Sündenerhebung (1923)
GA 238:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Vierter Band. Das geistige Leben der Gegenwart im Zusammenhang mit der anthroposophischen Bewegung (1924)
GA 307:  Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung (1923)