Okkultismus

Der Okkultismus schließt die Kenntnis derjenigen Gesetze unseres Daseins in sich, die sich der gewöhnlichen Sinnesbeobachtung im alltäglichen menschlichen Erfahrungsbereiche entziehen. [1] (Der Grund seines Auftretens ist der folgende:) Die Worte nehmen immer mehr und mehr den Charakter an, nur auf Materielles angewendet zu werden. Hätte man (nun) noch 100 Jahre gewartet, dann könnten unsere Worte nicht mehr ausdrücken, was die Geisteswissenschaft zu sagen hat. [2] Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sollten einige (Eingeweihte) hinausgehen, um der Menschheit zu verkünden, was sie heute wissen muß. Nichts anderes ist die Theosophie als die elementare Lehre des Okkultismus.

Wenn wir nun zurückblicken in jene fernen Zeiten, wo der Okkultismus geheim betrieben worden war, so gab es dreierlei Arten, durch die der Mensch in Beziehung kommen konnte zu den übersinnlichen Welten: 1. als Eingeweihter, 2. als Hellseher, 3. als Adept. Das waren in den alten Zeiten drei streng voneinander geschiedene Arten. [3]

Es gibt Leute, die in hohem Grade eingeweiht sind, obwohl sie nicht hellsehend sind; wenigstens gilt dies für alle alten Schulen, heute nicht mehr in demselben Grade. Früher konnte man so arbeiten, denn es ist ein langer Prozeß, das Hellsehertum oder den Eingeweihten auszubilden. Viele Inkarnationen sind dazu bei manchen nötig. Nun ist ein solches Zusammenwirken von Hellsehern und Eingeweihten heute nicht mehr möglich. Denn von jener Selbstlosigkeit, die sich früher in den Geheimschulen betätigt hat, hat die heutige Menschheit keinen Begriff mehr. Insbesondere in den ägyptischen Mysterien arbeitete man so zusammen (näheres siehe: Mysterien-Eingeweihte, verschiedene Arten). Aber, dieses volle Vertrauen (von Mensch zu Mensch) ist heute gar nicht mehr vorhanden, davon kann sich die heutige Menschheit gar keine Vorstellung machen. Deshalb hat man in den Rosenkreuzerschulen nur Eingeweihte und Hellseher bis zu einem gewissen Grade entwickelt. Dagegen muß man mit dem Adeptentum sehr vorsichtig sein, man würde der Welt nur schaden. Denn die Menschen sind sehr abgeneigt, zu glauben, daß geistige Kräfte in alles hineinwirken. Es würde sich ein «Sturm» entfesseln und die Folge davon wäre, daß man das vorbereitende Verständnis sehr gefährdet. Zuerst müssen Hellseher und Eingeweihte das okkulte Wissen verkünden, und dann werden erst nach und nach die Adepten kommen. [4] Das praktische Wirken aus den geistigen Welten herein, das ist Adeptschaft. [5] Daß der Hellseher selbst hineinsehen kann in die höheren Welten, daraus folgt noch nicht, daß er auch die Kräfte, die hereinwirken in die Sinneswelt, zu beherrschen und anzuwenden versteht. Der erst ist Magier oder Adept, der die höheren Kräfte, von denen alles physische Geschehen ein Ausdruck ist, in der Welt hier anzuwenden versteht, der also imstande ist, nicht nur die physischen Kräfte und die physischen Mächte zu Rate zu ziehen, wenn es sich um irgend etwas bei seinem Tun handelt, sondern der die höheren Kräfte spielen lassen kann. Das ist in unserer Zeit eigentlich keine Kleinigkeit, Magier oder Adept zu sein. Es gibt keine Zeit in der Menschheitsentwickelung, die dem Magiertum oder Adeptentum so durchaus entgegengesetzt war, wie unsere heutige es ist. Und man dient heute der Menschheit unter gewissen Verhältnissen am besten dadurch, daß man sich darauf beschränkt, die Erkenntnisse der höheren Welten zu verbreiten, und selbst – vielleicht mit blutendem Herzen –, auch Fällen, wo die Anwendung magischer Kräfte vielleicht am Platze wäre, darauf verzichtet. Denn das heutige öffentliche Leben ist so fremd dem Begriffe des Magiertums, daß unter Umständen der Einfluß höherer Welten auf diese unsere Welt einen Rückschlag bedeuten würde, wenn unmittelbar magische Kräfte angewendet würden. Wer eine gewisse Übung in der Anwendung der Kräfte hat, und zu Kenntnissen sich auch den Mechanismus angeeignet hat, der muß in gewissen Fällen sich enthalten, diese Kräfte anzuwenden, aus dem einfachen Grunde, weil es unmöglich ist, heute gegen die Strömung der Zeit in der Welt anzulaufen. Zum Magier gehört nicht nur Hellsehen und Einweihung, zum Magier gehört auch Übung. Das ist es, um was es sich handelt. Der Magier muß entsagungsvoll durch lange Zeiten hindurch gewisse Verrichtungen sich aneignen, er muß sich üben. [6]

Im Okkultismus (und allem, was dazugehört) stehen Scharlatanerie und Wahrheit dicht beieinander. [7] Eine Gestalt, die anklingt an Goethes Mephistopheles, die Ahrimangestalt geht durch alle Zeiten menschlicher Geistesentwickelung durch und kann auch durchaus in unserer Zeit lebendig empfunden werden. Man möchte sagen, es ist diejenige Geistgestalt, die ihre Freude daran hat und ihren Nutzen davon hat, wenn Seelen innerlich zwar scheinbar recht tief, recht mystisch, recht okkult sind, aber doch eigentlich nicht wahrhaftig sind. [8] (Daher) ist es für den werdenden Okkultisten unendlich bedeutungsvoll, immer mehr und mehr zu sehen, daß das liebevolle Interesse für alles, was uns in der Welt umgibt, erwacht. Es ist dies ein Wort, das man leider gewöhnlich nicht tief genug nimmt. Daher kommen die geringen Erfolge, die oftmals im Okkultismus gemacht werden. Es ist ja im Grunde nur zu natürlich, daß der Mensch in der Regel, sich doch mit der nötigen Kraft des Interesses nur für sich selbst interessiert. Wenn man auch dem Ding einen anderen Namen gibt, so interessiert man sich eigentlich doch wirklich im allergeringsten Maße für etwas anderes und am allermeisten für sich selber. [9]

Eine Person darf im Abendlande zu der Stufe der psychischen Entwickelung (Geistesschau) nur geführt werden, wenn bei ihr der Teil von Führung, die nicht mehr von einem Guru ausgehen kann, durch eine bis zu einem gewissen Grade gekommene mentale Schulung ersetzt wird. Ich meine damit nicht bloß intellektuell-philosophische Schulung, sondern die Entwickelung jener Bewußtseinsstufe, welche im gedanklich-inneren Schauen besteht. Das fordert einfach die Stufe der Gehirnentwickelung, auf welcher der Abendländer stehen muß. Dies alles ist deshalb der Fall, weil der Gedanke selbst für alle Plane derselbe ist. Wo auch der Gedanke ausgebildet wird, ob auf dem physischen oder einem höheren Plane: er wird für alles dann ein sicherer Führer sein, wenn er sinnlichkeitsfrei und ein in Selbsterkenntnis erfaßter ist. Wird er zuerst – nach der abendländischen Gehirnanlage – auf dem physischen Plane entwickelt, dann bleibt er der sicher leitende Faden durch alle Stufen der physischen und der überphysischen Erkenntnis. Fehlt er, dann wandelt der Abendländer steuerlos, gleich ob er sich auf dem physischen oder einem höheren Plane bewegt. Und bei der im gegenwärtigen Zeitpunkte so nahen Verwandtschaft aller höheren Menschenkräfte mit den Kräften, die auf niedriger Stufe der Sexualsphäre angehören, kann in jedem Augenblicke eine Entgleisung stattfinden. (Sexualmagie) ist etwas, welches gegenwärtig in vielen okkulten Gruppen geübt wird, die mehr oder weniger dem linken Pfade zustreben (siehe: Magie schwarze). [10] .

Zitate:

[1]  GA 54, Seite 201   (Ausgabe 1966, 540 Seiten)
[2]  GA 284, Seite 80   (Ausgabe 1993, 208 Seiten)
[3]  GA 98, Seite 16   (Ausgabe 1983, 272 Seiten)
[4]  GA 98, Seite 18   (Ausgabe 1983, 272 Seiten)
[5]  GA 98, Seite 20   (Ausgabe 1983, 272 Seiten)
[6]  GA 101, Seite 125f   (Ausgabe 1987, 288 Seiten)
[7]  GA 158, Seite 205   (Ausgabe 1993, 234 Seiten)
[8]  GA 277, Seite 277   (Ausgabe 1980, 620 Seiten)
[9]  GA 156, Seite 58   (Ausgabe 1967, 183 Seiten)
[10]  GA 264, Seite 280   (Ausgabe 1984, 476 Seiten)

Quellen:

GA 54:  Die Welträtsel und die Anthroposophie (1905/1906)
GA 98:  Natur- und Geistwesen – ihr Wirken in unserer sichtbaren Welt (1907/1908)
GA 101:  Mythen und Sagen. Okkulte Zeichen und Symbole (1907)
GA 156:  Okkultes Lesen und okkultes Hören (1914)
GA 158:  Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt. Kalewala – Olaf Åsteson – Das russische Volkstum – Die Welt als Ergebnis von Gleichgewichtswirkungen (1912-1914)
GA 264:  Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904 bis 1914. Briefe, Rundbriefe, Dokumente und Vorträge (1904-1914)
GA 277:  Eurythmie – Die Offenbarung der sprechenden Seele. Eine Fortbildung der Goetheschen Metamorphosenanschauung im Bereich der menschlichen Bewegung (1918-1924)
GA 284:  Bilder okkulter Siegel und Säulen. Der Münchner Kongreß Pfingsten 1907 und seine Auswirkungen (1907)