Wer diese beiden Dinge gründlich durchdenkt, daß der Mensch sich in zweifacher Weise unabhängig machen kann, daß er nicht bloß beobachten, sondern auch Theorien aufstellen kann, daß er nicht bloß wie die Tierseele Entwickelung, sondern auch Geschichte hat, wer sich diese beiden Dinge klarmacht, der versteht, was ich meinte, wenn ich sagte, im Menschen lebt nicht nur die Tierseele, sondern die Tierseeele entwickelt sich so weit herauf, daß sie aufnehmen kann den sogenannten Nus, den Weltengeist. Das hält Aristoteles für notwendig, damit der Mensch Geschichte bilden könne, daß in die Tierseele sich der Weltengeist hineinsenkt. Die Seele des Menschen unterscheidet sich im Sinne des Aristoteles von der Tierseele dadurch, daß sie heraufgehoben worden ist von dem, wozu sie sich innerhalb der Tierentwickelung erhoben hat, bis zu den Funktionen und Tätigkeiten, durch die sie in den Besitz des Geistes gekommen ist. Die Menschenseele wird gleichsam hinausgehoben aus dem Tiersein. Der Geist ist es, der sie heraushebt. Der Geist lebt in der Seele. Er entwickelt sich aus der Seele heraus. Er entwickelt sich so, wie sich die Seele stufenweise aus dem Körper heraushebt. Aber gerade dieses letztere sagte Aristoteles nicht oder nicht klar. Er sagt zwar immer wieder und wieder: die Seele entwickelt sich stufenweise bis zur Menschenseele auf einem ganz naturgemäßen Wege – aber nun kommt der Geist von außen in diese naturgemäß entwickelte Menschenseele hinein. Nus ist im Sinne des Aristoteles etwas, was von außen durch schöpferische Tätigkeit in die Menschenseele hineingelegt wird. Und das wurde das Verhängnis der Seelenwissenschaft des Abendlandes. Es ist das ein Verhängnis des Aristoteles, daß er nicht imstande ist, seine richtige Ansicht, daß durch das Einsenken des Nus in die Menschenseele diese Menschenseele heraufgehoben wird, zu einer Theorie des Geschichtsverlaufes (aus)zugestalten. Diese Entwickelung ist er nicht imstande, ebenso naturgemäß zu begreifen, wie die Entwickelung der Seele zu begreifen ist. Das haben aber schon griechische Weise, schon indische Weise getan. Sie haben Körper, Seele und Geist in naturgemäßer Weise bis zum Menschengeist in ihrer Entwickelung begriffen. Bei Aristoteles ist es ein Bruch. Es kommt der Schöpfungsgedanke in die Auffassung hinein. [1] (Hingegen durch die Anschauung von der Reinkarnation der Seele und des Geistes) gliedern sich in einer Kette Schicksal und Seelenwesen zusammen. Wie auf der Perlenschnur des Schicksals erscheinen die einzelnen Stufen der Seelenentwickelung des menschlichen Lebens, des ganzen Menschenlebens aufgereiht. Und was unerklärlich ist in einem Menschenleben, das wird erklärlich werden, wenn wir es nicht als Wunder für sich hinnehmen, sondern wenn wir es in seinen wiederkommenden Erscheinungen betrachten. Dann aber, wenn wir die Seelenentwickelung in dieser Art betrachten, kommen wir über das Verhängnis des Aristoteles hinüber; und nur allein dadurch kommen wir über das Verhängnis der aristotelischen Seelenlehre hinaus. (Denn) wer sich nicht zu der Entwickelungs-lehre bekennt muß sich zum Schöpfungsakte bekennen, der sich bei jeder einzelnen Geburt des Menschen vollzieht. Er muß bei jeder Geburt ein besonderes Schöpfungswunder annehmen. Die naturwissenschaftliche Schöpfungslehre ist Wunderglaube, Aberglaube. Es gibt auch auf dem Gebiet der Seelenlehre nur diese zwei Wege: den wunderbaren Schöpfungsakt bei der Entstehung des einen Menschen, oder Seelenentwickelung. Das erste ist unmöglich.
Diejenigen aber, welche naturwissenschaftlich denken wollen und imstande sind, das Seelenleben in naturwissenschaftlichem Geiste zu betrachten, kommen von selbst, vom Standpunkte der modernen Forschung zu dieser Seelen-Wiederverkörperungslehre, wie auch ein moderner Philosoph, Professor Baumann in Göttingen, dazu gekommen ist. Das werden die zwei Wege sein, die wir in klarem Denken verfolgen müssen: entweder Seelenschöpfung als Wunder in jedem Fall oder Seelenentwickelung im Sinne des naturwissenschaftlichen Denkens und (also) Wiederkehr der Seele. [2]
[1] | GA 52, Seite 155f | (Ausgabe 1972, 442 Seiten) |
[2] | GA 52, Seite 179f | (Ausgabe 1972, 442 Seiten) |
GA 52: | Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung (1903/1904) |