Nervosität

An die Menschen wollen heute heran nicht nur die sinnlichen äußeren Eindrücke, sondern diese sinnlichen äußeren Eindrücke wollen einfließen durch die menschlichen Sinne so, daß sie im menschlichen Wesen zu Imaginationen werden. Innerlich ist der Mensch heute dazu veranlagt, Imaginationen, bildhaftes Vorstellen über die Welt zu entwickeln. Aber er haßt es, er sagt: Das ist Dichtung, Phantasie. Und was in des Menschen Inneren lebt, das offenbart sich fortwährend, nur daß der Mensch nichts davon merkt, als Inspirationen. Niemals waren die Menschen so gequält von Inspirationen wie heute. Denn sie merken, daß etwas aus ihrem Inneren heraufsteigen will zu Herz und Kopf; sie aber empfinden es nur als Nervosität, weil sie es nicht heraufsteigen lassen wollen, oder sie betäuben sich durch irgend etwas anderes gegen diese Offenbarungen des Geistes. [1]

Ein Überbewußtsein tritt heute schon in die Menschheit herein. Dieses Überbewußtsein, das befaßt sich namentlich mit dem menschlichen Willen und mit der Wirkung, die der Wille haben kann, indem er sich bewegt auf dem Nervensystem. Und wenn Sie heute die ungezügelte Art der menschlichen Willensentfaltung in weitesten Horizonten beobachten, und verstehen das mit der Initiationswissenschaft, dann sehen Sie schon, wie hereindringt in Seelenäußerungen hereindringt selbst bis in physische Krankheitszustände – dasjenige, was die Ankündigung eines Überbewußtseins ist, eines höheren Bewußtseins als des gewöhnlichen Wachbewußtseins. Und alles dasjenige, was selbst in den äußeren Lebensverhältnissen heute die Menschheit so durchrüttelt und durchschüttelt, hat seinen Grund darin, daß sich die Menschheit heute noch größtenteils unbewußt wehrt gegen dasjenige, was da aus geistigen Welten über die Menschheit kommen will. Namentlich an den Willen des Menschen will es heran. [2] Gerade das Entgegengesetzte, was für unseren Leib gut ist, ist für den Geist, für die Seele gut. Während der äußere Leib Vielseitigkeit braucht, Anpassung an die äußeren Verhältnisse, braucht die Seele für die intellektuelle Kultur Konzentration, die Möglichkeit, immer wieder und wieder die Summe der Gedanken, der Empfindungen und Wahrnehmungen auf einzelne wenige Grund-Ideen zurückzuführen. Wer aber nur so das Leben durchläuft, daß er nicht das, was das Leben ihm bietet, auf einige große Grund-Ideen zurückführt, der wird erstens zeigen, daß er sich schwer erinnert, daß er unfruchtbar für das Leben wird, er wird aber auch zeigen, daß er an das Leben mit einer gewissen Disharmonie herantritt. Und weil in unserer Zeit so wenig der Glaube an die Konzentration des Geistes vorhanden ist und daher auch so wenig gesucht wird, kommen daher auch so viele andere Übel, die als Mängel der Selbsterziehung auftreten, vor allen Dingen das, was man heute gewöhnlich Nervosität nennt. Nervös kann der Mensch sein nicht durch Erziehung seines Willens, sondern durch falsche Erziehung seines Willens. Die Willenskultur kann zur Nervosität führen, indem der Mensch sie auf verkehrtem Wege sucht, wenn er, anstatt mit der Außenwelt in Verbindung zu kommen und an ihren Hindernissen und Hemmnissen seinen Willen stählt, durch allerlei innere Mittel dazu kommen will, die nur im Vorstellungsleben wirken. Dadurch kann er leicht zur Nervosität des Willens kommen. [3]

Es ist das Schlimmste, was wir einem Kinde antun können, wenn wir in der Umgebung des Kindes irgendeine Anordnung geben, hinterher wieder zurücknehmen, etwas anderes sagen, wodurch die Dinge verwirrt werden. Verwirrung hervorzurufen durch Denken in der Umgebung des Kindes, das ist der eigentliche Urheber desjengen, was wir in der heutigen Zivilisation die Nervosität des Menschen nennen. Warum sind so viele Menschen in unserem Zeitalter nervös? Nur aus dem Grunde, weil die Menschen nicht klar, präzise in der Umgebung gedacht haben, während das Kind, nachdem es sprechen gelernt hat, auch denken lernt. Die nächste Generation, wenn sie gerade ihre großen Fehler zeigt, ist in ihrem physischen Verhalten einfach ein getreues Abbild der vorhergehenden Generation. [4]

Alle Bejahung (im Leben) belebt, alle Verneinung erschöpft und tötet. Nicht nur weil eine sittliche Kraft dazugehört, sich der positiven Seite einer Sache zuzuwenden, sondern weil eine jede Bejahung belebt und Kräfte der Seele frei und sicher macht. In einem solchen Zeitalter wie heute herrscht auch (aus Mangel an Positivität) die Nervosität. Nervosität und Kritiksucht gehören zusammen. [5]

Die Nervosität ist eine Folge der materialistischen Weltanschauung des 18. Jahrhunderts. Der Geheimlehrer weiß, daß, wenn der Materialismus noch Jahrzehnte fortdauern würde, er eine verheerende Wirkung auf die Volksgesundheit haben würde. Es würden später die Menschen nicht nur gewöhnlich nervös sein, sondern die Kinder würden zitternd geboren werden und nicht nur die Umgebung empfinden, sondern an jeder Umgebung eine Schmerzempfindung haben. Vor allem würden die Geisteskrankheiten sich ungeheuer rasch verbreiten; Irrsinnsepidemien würden auftreten. [6]

Es gibt Menschen, und zwar jetzt gar nicht selten, die ihre frühere niedere Natur fortwährend neben sich haben. Das ist eine spezifische Art von Wahnsinn. Das wird immer stärker und stärker werden, weil das Leben im Materiellen sich immer mehr ausbreitet. Viele Menschen, die jetzt ganz im materiellen Leben aufgehen, werden in der nächsten Inkarnation die abnorme Form des Hüters der Schwelle (als Doppelgänger) neben sich haben. Alle Nervösen von heute werden gehetzt sein durch den Hüter der Schwelle in der nächsten Inkarnation. Sie werden gehetzt werden in eine zu frühe Inkarnation, eine Art kosmischer Frühgeburt. [7]

Zitate:

[1]  GA 192, Seite 211   (Ausgabe 1964, 403 Seiten)
[2]  GA 228, Seite 143ff   (Ausgabe 1964, 155 Seiten)
[3]  GA 61, Seite 438f   (Ausgabe 1962, 536 Seiten)
[4]  GA 307, Seite 111f   (Ausgabe 1973, 284 Seiten)
[5]  GA 54, Seite 470f   (Ausgabe 1966, 540 Seiten)
[6]  GA 95, Seite 67   (Ausgabe 1978, 164 Seiten)
[7]  GA 93a, Seite 28f   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)

Quellen:

GA 54:  Die Welträtsel und die Anthroposophie (1905/1906)
GA 61:  Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung (1911/1912)
GA 93a:  Grundelemente der Esoterik (1905)
GA 95:  Vor dem Tore der Theosophie (1906)
GA 192:  Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen (1919)
GA 228:  Initiationswissenschaft und Sternenerkenntnis. Der Mensch in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vom Gesichtspunkt der Bewußtseinsentwickelung (1923)
GA 307:  Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung (1923)