Nerven-Sinnessystem

Der Mensch ist ein dreigliedriges Wesen, sein Denken ist gebunden an das Nerven-Sinnessystern, und zwar ist es ganz im Sinne physischer Abhängigkeit an dieses System gebunden. Das Fühlen ist an das rhythmische System, vorzugsweise an das Atmungssystem und an das Zirkulationssystem gebunden; und das Willenssystem hat das Bewegungs- und Stoffwechselsystem zur Grundlage. (Weiteres siehe: Dreigliederung des Menschen). Diese drei Systeme im Menschen entwickeln sich so, daß jedes ein anderes Zeitmaß einhält, und daß der Höhepunkt dieser Entwickelung bei jedem in eine andere Lebensepoche fällt. In dem ersten Lebensalter, bis zum Zahnwechsel hin ist das Kind in einem mehr als sinnbildlichen Sinne ganz Sinnesorgan. Es ist gewissermaßen ganz Kopf; und alle seine Entwickelung geht vom Nerven-Sinnessystem aus. Da liegen die Ursprungsstellen für die formenden Kräfte des ganzen Organismus. Das Nerven-Sinnessystem durchdringt als Hauptakteur den ganzen Organismus; und alle Eindrücke der Außenwelt wirken durch den ganzen Organismus hindurch, während sie im späteren Leben nur an der Peripherie des Sinnessystems physisch, aber weiter in den Körper hinein bloß seelisch wirken. [1] Der ganze menschliche Organismus ist das sinnliche Abbild eines Geistigen. Aber so einfach, wie man es sich in bezug auf das Sinnes-Nervensystem vorstellt, ist die Wechselwirkung des Geistig-Seelischen und des Physisch-Organischen im menschlichen Organismus wahrhaftig nicht. Sondern da liegt das zugrunde, daß, wenn man nur auf die physische Organisation des Menschen schaut, die Sache eben nicht so ist, wie man sie so gerne annehmen möchte, daß gewissermaßen die physische Organisation mit Ausnahme des Nervensystems und der Sinne ein Ganzes bildet, und in diese Struktur nur das Nervensystem eingelagert ist, um abgesondert nun zu dienen für das Seelische. Es ist natürlich nicht in dieser Radikalität vorgestellt, aber wenn man dann dasjenige, was man physiologisch als Theorie hat, der praktischen Betrachtung zugrunde legt, so kommt es etwa schon auf das hinaus. Daher besteht so wenig Möglichkeit, über dasjenige heute ein vernünftiges Urteil zu fällen, was man oft funktionelle Krankheiten, Nervenstörungen und so weiter nennt. Im menschlichen Organismus ist eben nichts, was nicht zum ganzen Organismus gehört und in Wechselwirkung steht mit anderen Organen. Es ist nicht ein abgesondertes Nervensystem deshalb da, damit der Organismus sich sonst versorgt, und ihm eingelagert ist – ich weiß nicht durch welche Gottheit – das Nervensystem, damit er eine Seele sein kann. In erster Linie, primär ist das Nervensystem dasjenige, wovon die gestaltenden, die Rundungskräfte (im Gegensatz zu den radial wirkenden Kräften) des menschlichen Organismus ausgehen. Die Form Ihrer Nase, die Form Ihres ganzen Organismus ist im Grunde genommen vom Nevensystem aus gestaltet. Das Nierensystem strahlt die Kräfte des Stoffes radial aus, und das Nervensystem ist da, um den Organismus innerlich und äußerlich seine Formen zu geben, hat zunächst überhaupt nichts mit dem Seelischen zu tun; es ist der Plastiker des menschlichen Organismus. Und schon in frühen Stadien der menschlichen individuellen Entwickelung sondert sich gewissermaßen ein besonderer Teil der Nerventätigkeit ab, den der Organismus nicht für sich verwendet zur Gestaltung, und an den paßt sich das Seelische an – das ist sekundär und paßt sich immer mehr und mehr an. Das Sinnes-Nervenleben wird geboren mit einer Art Hypertrophie, davon wird etwas erspart, und an dieses Ersparte paßt sich dann die seelische Tätigkeit an, während das Primäre im Nerven-Sinnessystem das Gestaltende ist. Alle Organe sind aus dem Nerven-Sinnessystem heraus gestaltet. Sogar daß wir sehen, beruht darauf, daß von der Gestaltungskraft, die ursprünglich von dem Sehtrakt ausgeht für die Bildung der Gehirnorgane, etwas übrig bleibt, dem sich dann dasjenige, was wir in der Sehkraft seelisch entwickeln, anpaßt. Bevor man in diesen Dingen nicht ordentlich sieht, wird man überhaupt nicht in der Lage sein, den Menschen ordentlich zu durchschauen, wenn wir einfach nicht wissen, daß, wenn fortwährend Stoffwechsel in uns stattfindet, täglich, jährlich in uns stattfindet, da immerfort unsere Organe erstens versorgt werden müssen durch dasjenige, was von den Nieren ausstrahlt mit dem Radialen, und daß dann die Organe plastisch abgerundet werden müssen. Der Stoff, der durch die Nieren ausgestrahlt wird, muß fortwährend plastisch abgerundet werden. Das geht durch die ganze Lebenszeit des Menschen von denjenigen Nervenorganen aus, die sich von den Sinnen nach dem Inneren des menschlichen Organismus erstrecken. Es ist einfach eine Anpassung des Seelischen an diesen einzelnen Organtrakt, wodurch dann die höhere Sinnestätigkeit und die Vorstellungstätigkeit und so weiter zustande kommt. [2]

Zitate:

[1]  GA 305, Seite 58f   (Ausgabe 1979, 264 Seiten)
[2]  GA 314, Seite 146ff   (Ausgabe 1975, 328 Seiten)

Quellen:

GA 305:  Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst. Spirituelle Werte in Erziehung und sozialem Leben (1922)
GA 314:  Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft. Zur Therapie und Hygiene (1920/1924)