Naturwissenschaft

Ich glaube, daß nur derjenige über die Naturwissenschaft sprechen darf, der diese Naturwissenschaft kennt, und der ihre Errungenschaften zu würdigen weiß; während alles Gerede von sogenannten Mystikern oder Theosophen (oder Anthroposophen) über die Naturwissenschaft, wenn sie die Naturwissenschaft nicht kennen, eben ein müßiges Gerede ist. [1]

Man nennt im gewöhnlichen Leben und auch in der heutigen Wissenschaft das, was man äußerlich mit den Sinnen beobachtet: ein Reales oder wenigstens etwas, was auf einem Realen begründet ist. Man stützt die reale Wissenschaft auf das, was man mit den Sinnen beobachtet. Man bemüht sich aber noch, sie zu etwas anderem zu benützen, man bemüht sich auch, alles so zu begreifen, wie das verläuft, was draußen durch die Sinne beobachtet werden kann. Es bemühen sich die Biologen, das Lebewesen, den lebendigen Organismus so zu begreifen, als ob er nur ein kompliziertes Zusammenwirken von lauter mechanischen Kräften, also eine komplizierte Maschine sei, weil sie nur eine Maschine als etwas Reales ansehen können. Es liegt da etwas dahinter, daß der Mensch etwas als Reales bezeichnet, und zwar durch das ganze Leben hindurch heute als real bezeichnet, was gar nichts Reales ist, was gar nicht dasjenige ist, als was es angesprochen wird. Werden Sie sagen: Dieser Leichnam ist der Mensch? – Nein, diese sich zersetzende Leiche ist nicht der Mensch, sie ist die zerbrechende Form des Menschen. Und so ist es mit der ganzen äußeren Natur. Man sucht das Tote und ahnt nicht, daß alles Tote ein Gestorbenes ist. Würde man nun wirklich den Übergang finden von dem Begriffe der «toten Natur» zu dem Begriffe der «gestorbenen Natur», würde man nur wirklich begreifen, daß alles Tote einmal lebendig war und gestorben ist, daß das, was wir heute als Gestein finden können, während der Mondenzeit lebendig war und gestorben ist, zum toten Gestein erst durch einen ähnlichen Prozeß geworden ist wie der Leichnam des Menschen; würden wir das im lebendigen Sein erfassen, würden wir die tote Natur als einen Leichnam verstehen, so würden wir wissen, daß das, was wir das Sein nennen, nichts ist, was Sein enthält, sondern etwas ist, aus dem eigentlich das Sein schon entflohen ist. Das ist unendlich wichtig. Die Menschen begreifen nicht, daß sie sich heften an das Tote, ohne zu verstehen, daß es ein Gestorbenes ist; und sie verstehen nicht, daß sie das Lebendige nicht begreifen sollen durch das Gestorbene. Wenn die Menschen den lebendigen Organismus ansehen, der noch nicht gestorben ist, sondern vor ihnen lebt, und ihn zurückführen auf einen Mechanismus, der nur ein Abbild ist des Gestorbenen, so wollen sie das Lebendige aus dem Gestorbenen begreifen und erklären. Das ist das Ideal, das Ziel der ganzen heutigen Weltanschauung: das Lebendige aus dem Gestorbenen zu begreifen. [2]

Daß das naturwissenschaftliche Forschen groß werden konnte, war bedingt dadurch, daß zurücktrat selbst das Empfinden für das geistige Durchschauen der Welt. [3] Der äußeren Forschung steht gegenüber eine philosophische Unbildung gerade derjenigen, die da Forscher sind, so daß es zwar mit Hilfe der, heutigen Werkzeuge möglich ist, auf dem äußeren Tatsachengebiet große, gewaltige Errungenschaften zu erzielen, daß es aber denjenigen, denen gerade die Mission zukommt, diese Errungenschaften zu machen, nicht möglich ist, Schlüsse zu ziehen aus diesen äußeren Ergebnissen für die Erkenntnis des Geistes, eben einfach aus dem Grunde, weil die mit der äußeren Mission der Wissenschaften Betrauten auf gar keiner bedeutenden Bildungshöhe in bezug auf philosophischem Denken stehen. Es ist etwas ganz anderes, in der Forschung mit dem Werkzeuge und der äußeren Methode im Laboratorium, im Kabinett zu arbeiten, und etwas anderes, sein Denken so gebildet, so geschult zu haben, daß man aus dem, was man also erforschen kann, gültige Schlüsse zu ziehen vermag, die dann ein Licht zu verbreiten in der Lage sind über die Urgründe des Daseins. Es gab Zeiten philosophischer Vertiefung, in denen die Menschen, die dazu berufen waren, ihr Denken ganz besonders geschult hatten, in denen die äußere Forschung nicht so weit war wie heute. Heute ist das Gegenteil der Fall. Da steht bewunderungswürdig eine äußere Tatsachenforschung einem Unvermögen des Denkens und der philosophischen Begriffsdurcharbeitung im weitesten Sinne gegenüber. Ja, wir haben es eigentlich nicht nur zu tun mit einem solchen Unvermögen derer, die da arbeiten sollen in der Forschung, sondern mit einer gewissen Verachtung des philosophischen Denkens. Der Botaniker, der Physiker, der Chemiker findet es heute gar nicht nötig, sich irgendwie über die elementarsten Grundlagen der Gedankentechnik den Kopf zu zerbrechen. Wenn er an seine Arbeit im Laboratorium, im Kabinette herangeht, dann ist es so, daß man sagen kann: da arbeitet die Methode eigentlich von selber.

Durch dieses ungeschulte, durch dieses innerlich verwahrloste Denken, das den heutigen Gelehrten ebenso anhaftet wie den Laien, haben wir es dahin gebracht, daß gewisse Lehrsätze autoritativ die Welt durchschwirren, die die Laien (aber nicht nur die) gläubig hinnehmen und für etwas halten, das unbedingt sichergestellt ist, während eigentlich der Urgrund, daß diese Lehrsätze überhaupt entstanden sind, nur in dem verwahrlost genannten Denken liegt. [4] (Beispiele siehe: Naturwissenschaft – deren Begriffe).

Zitate:

[1]  GA 73, Seite 311   (Ausgabe 1973, 398 Seiten)
[2]  GA 162, Seite 222f   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[3]  GA 166, Seite 22   (Ausgabe 1982, 142 Seiten)
[4]  GA 108, Seite 219f   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)

Quellen:

GA 73:  Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie (1917/1918)
GA 108:  Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie (1908/1909)
GA 162:  Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915)
GA 166:  Notwendigkeit und Freiheit im Weltengeschehen und im menschlichen Handeln (1916)