Mythen

Mythen sind von den großen Eingeweihten den Menschen mitgeteilte Erzählungen, hinter denen große Wahrheiten stecken. Der Trojanische Krieg zum Beispiel stellt den Kampf der dritten mit der vierten Unterrasse der fünften Wurzelrasse dar. Jene hat als Repräsentanten den Laokoon, den Priester aus dem alten Priesterstaat, der zugleich König war, diese den Odysseus, die personifizierte Schlauheit, die in dieser Epoche zur Entwicklung kommende Denkkraft. Auch im Norden finden wir die Entwicklung durch solche Eingeweihte geleitet. [1]

Durch Sagen und Mythen haben sich ja in früheren Zeiten die Wissenden zu dem Volke über die tiefsten Wahrheiten ausgesprochen. Wenn man damals den Menschen, die da lebten, wo heute Nord- und Mitteleuropa ist, solche Begriffe beigebracht hätte, wie wir sie jetzt in der theosophischen Weltanschauung bekommen, so würden die Menschen von dazumal nichts davon gehabt haben. Die Weisen sprachen zu jedem Volk und Zeitalter so, wie das Volk und das Zeitalter sie verstehen konnte. Sie gingen dabei immer aus von dem Gesetz der Wiederverkörperung oder Reinkarnation. Der Druidenpriester sprach schon zu all den Seelen, die heute unsere Weltanschauung aufnehmen. Er sprach zu ihnen so, wie es für die damalige Zeit geeignet war. Wir alle, die wir die theosopische Weltanschauung aufnehmen, haben dasselbe schon früher als Mythen und Märchen gehört, sonst würden wir es heute gar nicht verstehen können. Das ist das Geheimnis der großen Meister: Sie leben ganz in dem Bewußtsein, daß sie unter Menschen sind, die immer wieder verkörpert werden. [2]

So wie es Traumwahrnehmungen gibt, die vom Körper kommen, so gibt es auch andere, die von der astralen und von der geistigen Welt kommen. In solchen Wahrnehmungen liegt der Ursprung der Mythen. Die Mythen und Legenden sind alle ursprünglich astrale Bilder, welche die Tradition entstellt, umformt und weiterbildet. Der Traumzustand oder die Wahrnehmung der realen Welt in einem astralen Bild – das ist der Ursprung aller Mythen. Die Mythen sind die Astralwelt, geschaut in symbolischen Visionen. Historisch gesehen verschwindet die Mythenschöpfung, wenn das logische und intellektuelle Leben sich entfaltet. [3] Alle Sagen und Mythen sind erlebt, nicht erdichtet, erlebt im alten hellseherischen Bewußtsein. [4] Die großen einheitlichen Sagengebilde, die wir als Mythologie zusammenfassen, führen zurück auf jene Erlebnisse, welche die Eingeweihten in den Mysterien gehabt haben. [5] Für den Okkultisten gilt der Satz, daß alles, was Zeichen sind – und auch eine Erzählung ist Zeichen –, eine reale Wirklichkeit hat in der geistigen Welt; und erst wenn wir wissen, was einem solchen Zeichen in der geistigen Welt entspricht, erst dann erkennen wir die wahre Bedeutung der Zeichen und Mythen. Können wir die «Schrift» lesen, dann blicken wir tief hinein in die Vorzeit; und zu gleicher Zeit befruchtet uns die Mythe selber. [6]

Es geht nichts verloren von den Fähigkeiten, welche sich die Seele bei ihrem Durchgang durch eine Entwickelungsstufe erworben hat. Aber wenn eine neue Fähigkeit erworben wird, so nimmt die vorher erworbene eine andere Form an. Die Atlantier hatten zum Beispiel die Fähigkeit, die Lebenskraft in einer gewissen Weise zu beherrschen. Aber sie hatten dafür gar nichts von dem was die Nachatlantier als Gabe zu erzählen haben. In der Maske der Mythologie trat zunächst bei den Angehörigen unserer Rasse die lebensbeherrschende Kraft der Atlantier auf. Und in dieser Form konnte sie die Grundlage werden für die Verstandestätigkeit unserer Rasse. [7]

Auf den Grund der Mythe, auf den Grund der Dichtungen kommt man nur, wenn man den Blick hinauszurichten versteht dahin, wo die Mythen und die Dichtungen her sind –: aus dem Himmel herein. [8] In den Mythen stecken tiefe Wahrheiten, die mit der Wirklichkeit mehr zusammenhängen als diejenigen Wahrheiten, welche durch die moderne Naturwissenschaft über diese oder jene Dinge ausgesprochen werden. Physiologische, biologische Wahrheiten über den Menschen stecken in den Mythen, und sie stecken so in den Mythen, daß beim Entstehen desjenigen, was im Mythus zum Ausdruck kommt, das Bewußtsein von der Zusammengehörigkeit des Menschen als Mikrokosmos mit dem Makrokosmos zugrunde liegt. [9]

In dem Buch «Rätsel der Sphinx» von Ludwig Laistner wird gezeigt, daß sich gewisse Mythen ausnehmen wie Fortsetzungen der Ereignisse der Traumwelt, die typisch erlebt werden. Aber man kann die Mythen und Sagen nicht so begreifen als die Umgestaltung typischer Träume, sondern man muß sie verstehen als hervorgehend aus einem früheren menschlichen Bewußtseinszustand, der in Bildern die geistige Welt sah und sie deshalb auch in Bildern zum Ausdruck brachte. [10] (Weiteres dazu siehe: Märchenentstehung). Es gab eine Zeit, in der die feineren Organe in der menschlichen Natur noch nicht ausgebildet waren, welche ermöglichen, ein inneres abgesondertes Gedankenleben zu entwickeln; in dieser Zeit hatte dafür der Mensch die Organe, die ihm sein Mit-Erleben mit der Welt in Bildern vorstellten. Es trat der Gedanke auf als das Werkzeug der Wahrheit. In ihm lebte aber nur ein Ast des alten Bild-Erlebens fort, das sich im Mythus seinen Ausdruck geschaffen hatte. In einem anderen Aste lebte das erloschene Bild-Erleben weiter, allerdings in abgeblaßter Gestalt, in den Schöpfungen der Phantasie, der Dichtung. [11]

Wir haben Mythen und Sagen aus alten Zeiten. Man wird in vielen von ihnen die Wiedererzählung von Vorgängen finden, die das alte hellseherische Bewußtsein in den geistigen Welten gesehen hat, gekleidet in sinnliche Vorgänge; oder er wird andere Mythen und Sagen kennenlernen, die im wesentlichen nichts anderes sind als die Wiedergaben der Mysterienvorgänge. Zum Beispiel: Pan, den Zeus versuchend. Diese Darstellung sollte ausdrücken den Vorgang des Hinuntersteigens des Menschen in das Innere, da, wo er antrifft seine eigene niedere Natur, die egoistische Pan-Natur, wenn er in den physischen und den Ätherleib hinuntersteigt. Und so ist die ganze alte Welt voll von Darstellungen solcher Vorgänge, die sich abspielen, wenn die Einzuweihenden den Weg in die geistige Welt durchmachten, und die in den Mythen und Symbolen künstlerisch wiedergegeben werden. [12]

Die echten Mythen stammen von den Eingeweihten als deren Schöpfung. In der Naturwissenschaft treten Ihnen dieselben Wahrheiten entgegen die Evolutionswahrheiten, die in den Mythen enthalten sind. Daher kommt die merkwürdige Übereinstimmung des tiefer verstandenen Entwickelungsgedankens mit den urältesten Lehren der Menschheit. Die mythischen Dinge sind von innen gesehen – die Naturwissenschaft sieht sie von außen, aber es sind dieselben Dinge. Das ist ein Hinweis auf die erstaunliche Tatsache, daß in den richtig verstandenen wissenschaftlichen Tatsachen die Wahrheiten wiedererscheinen, die in den ältesten Religionsbekenntnissen gefunden werden. Man braucht darüber nicht erstaunt zu sein, wenn man weiß, daß die Naturwissenschaft eine umgewandte Mythologie ist. Deshalb muß sie in ihrer Struktur dem gleichen, was schon einmal da war. [13]

Derjenige hat erst Mythen und Sagen wirklich begriffen, der in die menschliche Natur durch okkulte Physiologie hineingedrungen ist. Und mehr als eine äußere Wissenschaft enthalten oftmals schon die Namen der Mythen und Sagen und anderer Überlieferungen wirkliche Physiologie. Wenn die Menschen einmal ergründen werden, wieviel Physiologie in solchen Namen wie zum Beispiel Kain und Abel und in den Namen der ganzen Nachfolgeschaft von Kain und Abel liegt in jenen Zeiten, als man in den Namen inneren Sinn hineinprägte, wieviel in den alten Namen in ganz merkwürdiger Weise an Physiologie, an innerer Erkenntnis der menschlichen Lebensweisheit enthalten ist, dann werden die Menschen einen ungeheuren Respekt, eine ungeheure Ehrfurcht bekommen vor alledem, was im Laufe des geschichtlichen Werdens von weisheitsvollen Menschen ersonnen worden ist, um da, wo durch Weisheit noch nicht hinauf geschritten werden kann in die geistige Welt, die Seele durch Bilder ihren Zusammenhang mit diesen geistigen Welten erleben zu lassen.

Was der Hellseher mit dem geöffneten inneren Auge als die innere Natur der menschlichen Organe physiologisch ergründet, das drückt sich in Bildern aus und läßt ihn sehen, daß die Mythen und Sagen gleichsam die menschliche Herkunft enthalten. Der Hellseher sieht in den Mythen und Sagen ausgedrückt diesen Wunderprozeß, daß Welten zusammengedrängt worden sind in menschliche Organe. Er sieht, wie sich im Laufe unendlich langer Zeiten die Organe zusammenkristallisiert haben, um zu dem werden zu können, was als Milz, als Leber, als Galle in uns wirkt. Deshalb haben jene Okkultisten Recht, die in den Namen der Mythen und Sagen erst einen Sinn finden, wenn sie darin die Physiologie erkennen. [14]

Und es wird eine Zeit kommen, wo man anderes zu Inhalten des menschlichen Lehrens machen wird, als es die Gegenwart macht, wo selbst den Allergebildetsten nur Begriffe beigebracht werden, die auf die Natur gehen. Denn was beigebracht wird den Leuten mit Bezug auf das ethische, mit Bezug auf das soziale Leben, das sind zumeist wesenlose, schemenhafte Abstraktionen. In dieser Beziehung haben wir dasjenige noch nicht erreicht, was frühere Zeiten hatten. Frühere Zeiten hatten Mythen, die mit dem lebendigen Leben des Volkes zusammenhingen, Mythen, die in Dichtung, in Kunst, in alles mögliche hineinwirkten. Nach rückwärts leitete der Faden des Vorstellens, der Faden des Denkens, des Empfindens. Man fühlte sich eins mit längst Verstorbenen. Dasjenige, was von den Verstorbenen als ein Impuls ausgegangen ist, das wurde erzählt im Mythus, und im Durchleben des Mythus, im Sich-Einswissen mit den Impulsen des Mythus lebten diese Menschen. Etwas Ähnliches muß wieder geschaffen werden, wird geschaffen werden, wenn die Impulse der Geisteswissenschaft richtig verstanden werden. Nur werden allerdings die Seelenblicke der Zukunft weniger nach rückwärts als nach vorwärts gerichtet sein. Aber was Inhalt des öffentlichen Unterrichts werden muß, das ist das, was den Menschen zusammenbindet mit dem Werden der Zeit, und damit mit den Impulsen vor allem des Zeitgeistes, des entsprechenden Wesens aus der Hierarchie der Archai. [15]

Zitate:

[1]  GA 92, Seite 109   (Ausgabe 1999, 198 Seiten)
[2]  GA 92, Seite 147   (Ausgabe 1999, 198 Seiten)
[3]  GA 94, Seite 32f   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[4]  GA 57, Seite 399   (Ausgabe 1961, 434 Seiten)
[5]  GA 57, Seite 409   (Ausgabe 1961, 434 Seiten)
[6]  GA 101, Seite 26   (Ausgabe 1987, 288 Seiten)
[7]  GA 11, Seite 233f   (Ausgabe 1955, 252 Seiten)
[8]  GA 272, Seite 226   (Ausgabe 1981, 336 Seiten)
[9]  GA 180, Seite 132   (Ausgabe 1980, 351 Seiten)
[10]  GA 60, Seite 416   (Ausgabe 1983, 496 Seiten)
[11]  GA 18, Seite 39   (Ausgabe 1955, 688 Seiten)
[12]  GA 123, Seite 170f   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)
[13]  GA 96, Seite 137   (Ausgabe 1974, 350 Seiten)
[14]  GA 128, Seite 66f   (Ausgabe 1978, 186 Seiten)
[15]  GA 179, Seite 97f   (Ausgabe 1977, 164 Seiten)

Quellen:

GA 11:  Aus der Akasha-Chronik (1904/1908)
GA 18:  Die Rätsel der Philosophie. in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt (1914)
GA 57:  Wo und wie findet man den Geist? (1908/1909)
GA 60:  Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins (1910/1911)
GA 92:  Die okkulten Wahrheiten alter Mythen und Sagen. Griechische und germanische Mythologie. Über Richard Wagners Musikdramen (1904-1907)
GA 94:  Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906)
GA 96:  Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft. Christliche Esoterik im Lichte neuer Geist-Erkenntnis (1906/1907)
GA 101:  Mythen und Sagen. Okkulte Zeichen und Symbole (1907)
GA 123:  Das Matthäus-Evangelium (1910)
GA 128:  Eine okkulte Physiologie (1911)
GA 179:  Geschichtliche Notwendigkeit und Freiheit. Schicksalseinwirkungen aus der Welt der Toten (1917)
GA 180:  Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse. Alte Mythen und ihre Bedeutung. Alte Mythen und ihre Bedeutung (1917/1918)
GA 272:  Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust» Band I: Faust, der strebende Mensch (1910-1915)