Mysterien samothrakische

Die griechische Anschauung verwies selbst schon auf sehr Altes, wenn sie von den Mysterien von Samothrake sprach. Und man darf sagen: gegenüber allem, was die Griechen an verschiedenen Göttervorstellungen und an Vorstellungen des Zusammenhanges des Menschen mit diesen Göttern hatten, – die Vorstellung über die Gottheiten von Samothrake, über die kabirischen Gottheiten durchzogen alles. Und der alte Grieche war davon überzeugt, daß er durch dasjenige, was als Vermächtnis der samothrakischen Mysterien in das griechische Bewußtsein hineingekommen war, eine Vorstellung, eine Idee bekommen hat von der menschlichen Unsterblichkeit. [1]

Was wurde durch die Einweihungen eigentlich beabsichtigt? Es war eigentlich nichts Geringeres beabsichtigt, als daß man die Menschen über die Gefahr hinwegbrachte, sterblich zu werden in ihren Seelen. Heute denkt man sich die Unsterblichkeit als etwas, was einem jedenfalls zukommt, dessen man gar nicht verlustig gehen kann. In den samothrakischen Mysterien hat man zum Beispiel gelehrt: Es gibt 4 Kabiren; 3 von diesen töten immer den vierten. – Aber eigentlich meinte man, der Mensch habe physischen Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich. Der physische Leib ist zunächst als physischer Leichnam dem Tode verfallen. Der Ätherleib zerstiebt im Kosmischen, der astralische Leib geht auch in einer gewissen Weise (siehe: Kamaloka) auf. Wenn das Ich sein Selbstbewußtsein nicht rettet durch Teilnahme an dem Geistigen, dann töten die drei auch das Ich und ziehen es hinunter in die Sterblichkeit. Man stellte sich nicht vor, daß man sich die Unsterblichkeit durch Gebete erwerben könnte, sondern man stellte sich vor, daß diejenigen, die initiiert wurden, durch die besondere Umwandlung ihres Seelenwesens, durch ihre Auferweckung, durch das Aufwachen ihres Ich über die Gefahr hinwegkamen, sich nicht im Geiste zu erfassen und dadurch den Weg ihres sterblichen Leibes gehen zu müssen. [2] (Weiteres siehe: Unsterblichkeit).

Äußerlich betrachtet sind die Kabiren ja einfache Meeresgötter. Samothrake – die Griechen wußten es – war in verhältnismäßig gar nicht alter Urzeit von den furchtbarsten, erdbebenartigen Stürmen umbrandet, zerklüftet, durcheinander-geworfen. Also die Naturdämonen hatten hier in ganz ungeheuerlicher Weise so gewaltet, daß das noch wie in einer historischen Erinnerung für die alten Griechen war. Und in den Wäldern, in den damals dichten Wäldern von Samothrake war verborgen das Mysterium der Kabiren. Unter den mancherlei Namen, die die Kabiren tragen, sind auch die, wo der eine Kabir genannt wird Axieros, der zweite Axiokersos und der dritte Axiokersa; Kadmillos der vierte. Dann hatte man so ein unbestimmtes Gefühl, daß es noch einen fünften, sechsten und siebenten gab. Aber im Wesentlichen war der Menschen geistiger Blick hingerichtet auf die drei ersten Kabiren. Es handelte sich bei den alten Vorstellungen von den Kabiren nun wirklich um das Menschen-Werde-Geheimnis. Und eigentlich sollte derjenige, der in die heiligen Mysterien von Samothrake eingeweiht wurde, zu der Anschauung kommen: was entspricht in der geistigen Welt, geistig angeschaut, demjenigen, was hier auf Erden geschieht, wenn für eine auf der Erde sich verkörpernde Seele der Mensch entsteht in der Generationenfolge. Gewissermaßen das geistige Korrelat des menschlichen Geborenwerdens sollte geschaut werden in der geistigen Welt. Nun kann man nicht den Menschen in seinem Wesen wirklich schauen, wenn man ihn eingeschlossen sich denkt in seine Haut, wenn man der Täuschung unterliegt, daß das nur mit dem Menschen etwas zu tun hat, was da in äußerer physischer Gestalt vor einem steht, wenn man einen Menschen mit Augen schaut. Wer einen Menschen wirklich kennenlernen will, der muß aus diesem herausgehen, was innerhalb der Haut eingeschlossen ist, und das menschliche Wesen als ausgebreitet im ganzen Weltenall ansehen. Er muß die geistige Fortsetzung außer der Haut wirklich ins Auge fassen. Nun hingen mit diesem Impuls der Griechen, das Menschenwesen außerhalb der Haut zu schauen, mancherlei Göttervorstellungen zusammen. Aber von allen diesen Göttervorstellungen gab es gewissermaßen eine exoterische und eine esoterische Seite. Die exoterische Seite des Menschen-Werdens, also des Menschen-Werde-Geheimnis mit dem Natur-Werde-Geheimnis, diese ganzen Vorstellungen wurden ja angeschlagen, wenn der Grieche sprach von Demeter, später, wenn gesprochen wurde von Ceres, Kersa. Die esoterische Seite der Ceres, der Demeter, der Werde-Welt, waren gewissermaßen die Kabiren. Und nie kann man hinter das Menschengeheimnis kommen, wenn man den Menschen für eine Einheit hält. Jetzt (Heutigentags) ist es dem Menschen nicht bewußt, daß das keine Einheit ist. Aber als das atavistische Hellsehen die Menschenerkenntnis durchglühte, da waren die Menschen sich dessen bewußt. Und so setzten die samothrakischen Eingeweihten den Menschen zusammen gewissermaßen aus dem, was in der Mitte steht: Axieros, und aus dem, was Extreme sind: Axiokersos und Axiokersa, deren Kräfte sich mit der Kraft des Axieros verbanden. Man könnte auch so sagen: der samothrakische Eingeweihte lernte den Menschen kennen, wie er vor ihm stand im sinnlichen Anschauen, und ihm wurde gesagt: Du mußt von diesem Menschen zwei Extreme abziehen; Axiokersa, Axiokersos, die strahlen nur herein. Dann kannst du eventuell zurückbehalten Axieros. [3] Heute würden wir sagen: wir stellen dar, wie in der Mitte der Menschheits-Repräsentant steht Axieros –, wie der Menschheits-Repräsentant umkreist wird von Luzifer und Ahriman. Wir haben darinnen die für das heutige und das kommende Zeitalter angemessene Umgestaltung des heiligen samothrakischen Mysteriums. [4]

Man lehrte die Mysterienschüler im nördlichen Griechenland: Wenn Götter überall sind, dann muß man unterscheiden zwischen den kleinen Göttern, die in den einzelnen Naturwesen und Naturvorgängen sind, und den großen Göttern, welche sich darstellen als Wesenhaftes der Sonne, des Mars, des Merkur, und eines vierten, der nicht äußerlich durch ein Bild oder durch die Gestaltung sichtbar gemacht werden kann. Und nachdem zuerst, ich möchte sagen ein majestätischer Impuls in dem Schüler der nordgriechischen Mysterien dadurch erweckt worden war, daß sein Blick hinaufgelenkt wurde auf die Planetenkreise selbst, wurde dann dieser Blick menschlich so vertieft, daß gewissermaßen das Auge vom Herzen ergriffen wurde, um seelisch zu sehen. Dann verstand der Schüler, warum auf dem Altar vor ihn hingestellt worden waren drei symbolische Krüge. Eine Art Weihrauch wurde in diese Krüge getan, wurde entzündet, der Rauch strömte heraus, und drei Worte wurden mit mantrischer Gewalt von dem zelebrierenden Vater in den Rauch hineingesprochen, der von diesen Krügen aufdampfte, und es erschienen die Gestalten der drei Kabiren. Sie erschienen dadurch, daß der menschliche Atem, die Ausatmung durch das mantrische Wort sich gestaltete und seine Gestaltung mitteilte dem Aufsteigenden, Aufdampfenden der Substanz, die den symbolischen Krügen einverleibt worden war. Und indem der Schüler auf diese Weise lesen lernte in seinen eigenen Atemzügen, indem er lesen lernte, was in den Rauch diese eigenen Atemzüge hineinschrieben, lernte er zugleich das lesen, was die geheimnisvollen Planeten aus dem weiten Weltenall herein zu ihm sprachen.

Kabiren

Denn nun wußte er: wie der eine der Kabiren gestaltet wurde durch das mantrische Wort und seine Gewalt, so war in Wirklichkeit der Merkur; wie gestaltet wurde der zweite Kabir, so war in Wirklichkeit der Mars; wie gestaltet wurde der dritte Kabir, so war in Wirklichkeit Apollo, die Sonne. [5] Vater nannte man die zelebrierenden Initiatoren dieser Mysterien. In den samothrakischen Mysterien war noch etwas vorhanden, durch das der Mensch mit Wahrheit sagen konnte, wie sich Götter anfühlen lassen. Denn der Gefühls-, der Tastsinn war noch fähig dessen, wessen er in alten Zeiten durchaus fähig war: das Geistige anzufühlen, Götter zu ertasten.

Indem der priesterliche Magier in den Opferrauch die Worte hineinsprach, indem er also das Wort ertönen ließ im Aushauche und sprach, fühlte er in dem hinausgehenden Atem, wie der Mensch sonst fühlt, wenn er die tastende Hand ausstreckt. Der samothrakische Priestermagier empfand mit der ausgeatmeten Luft, und er empfand den Aushauch, den er gegen den Opferrauch hin strahlen ließ, wie ein Ausstrecken von etwas, was aus ihm selber herauskam: er empfand den Aushauch wie ein Tastorgan, das nach dem Rauche hin ging. Und er fühlte in dem Rauch die ihm entgegenkommenden großen Götter, die Kabiren. Und es war eine lebendige Wechselwirkung zwischen dem Logos im Menschen und dem Logos draußen in den Weltenweiten. Und indem der einweihende Vater den Schüler hinführte vor den Opferaltar und nach und nach lehrte, wie man fühlen kann mit der Sprache, kam der Schüler endlich zu jenem Stadium inneren Erlebens, in dem er zunächst ein deutliches Bewußtsein hatte, wie gestaltet ist Merkur, Hermes, wie gestaltet ist Apollo, wie gestaltet ist Ares, der Mars. Es war, wie wenn das ganze Bewußtsein des Menschen herausgehoben wäre aus seinem Leibe, wie wenn dasjenige, was der Schüler früher gewußt hat als den Inhalt seines Kopfes, oben gewesen wäre über seinem Haupte, wie wenn das Herz lokalisiert wäre an einem neuen Orte, indem es heraufgedrungen wäre aus der Brust in den Kopf. Und dann erstand in diesem über sich selbst wirklich hinausgegangenen Menschen dasjenige, was innerlich sich formte zu dem Worte: So wollen dich die Kabiren, die großen Götter. Von da ab wußte der Schüler, wie in ihm lebte Merkurius in seinen Gliedmaßen, die Sonne in seinem Herzen, der Mars in seiner Sprache. [6]

Zitate:

[1]  GA 273, Seite 201f   (Ausgabe 1981, 286 Seiten)
[2]  GA 205, Seite 48f   (Ausgabe 1967, 247 Seiten)
[3]  GA 273, Seite 202ff   (Ausgabe 1981, 286 Seiten)
[4]  GA 273, Seite 205   (Ausgabe 1981, 286 Seiten)
[5]  GA 232, Seite 180f   (Ausgabe 1974, 222 Seiten)
[6]  GA 232, Seite 182ff   (Ausgabe 1974, 222 Seiten)

Quellen:

GA 205:  Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Erster Teil:. Der Mensch als leiblich-seelische Wesenheit in seinem Verhältnis zur Welt (1921)
GA 232:  Mysteriengestaltungen (1923)
GA 273:  Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust» Band II: Das Faust-Problem. Die romantische und die klassische Walpurgisnacht (1916-1919)