Metamorphosenlehre Goethes

Indem die Kräfte, welche das Wesen der Pflanze organisieren, ins wirkliche Dasein treten, nehmen sie eine Reihe räumlicher Gestaltungsformen an. Es handelt sich nun um den lebendigen Begriff, welcher diese Formen rückwärts und vorwärts verbindet. Wenn wir die Metamorphosenlehre Goethes, wie sie uns aus dem Jahre 1790 vorliegt, betrachten, so finden wir darinnen, daß bei Goethe dieser Begriff der des wechselnden Ausdehnens und Zusammenziehens ist. [1] Der ganzen Goetheschen Metamorphosenlehre liegt die Auffassung zu Grunde, daß feste Grenzen zwischen den einzelnen Organen eines Individuums und den einzelnen Individuen eines Naturreiches nur in Gedanken stattfindet, daß jedoch in der realen Welt alles in einem stetigen Übergange schwankt. [2] Anm.10

Wenn man heute die Goethesche Metamorphosenlehre ansieht, wie sie durch Goethe hat werden können, der ein gescheiter Mensch war. Sie ist ja eine völlige Abstraktion, wie etwas, das überall Ansätze hat, das aber überall schon dabei stehenbleiben muß, zu zeigen, wie das Blatt in der Blüte lebt, wie sich ein Blütenblatt umwandelt in ein Staubblatt, also eine ganz elementare Metamorphose ins Auge faßt, beim Tier und Menschen dabei stehenbleibt, die Umwandelung der Wirbelknochen in Schädelknochen scheu anzuführen. Überall ist man über das Elementare nicht hinausgegangen. Ich selber war erschüttert, ich sagte mir: Ist denn nicht Goethe aufgegangen – daran krankte ich in den achtziger Jahren –, daß das ganze Gehirn die Umwandelung eines einzigen Gehirnganglions ist? Geistig konnte ich schauen, daß es ihm aufgegangen war. Dann aber fiel mir erst auf seine Zurückhaltung, das auszusagen, was ihm aufgegangen war. Als ich nach Weimar kam, fand ich in einem mit Bleistift geschriebenen Notizbüchlein die Notiz: Das Gehirn ist ein transformiertes Hauptganglion. – Das ist erst in den neunziger Jahren durch meine Bemühungen gedruckt worden. In den neunziger Jahren ist ja plötzlich ein ganz neuer Schriftsteller aufgetreten: Goethe wurde sozusagen der fruchtbarste Schriftsteller am Ende des 19. Jahrhunderts. [3]

Goethe selbst hat noch nicht Geisteswissenschaft begründet; er ist nicht dazu gekommen. Aber er hat seine Metamorphosenlehre so ausgebildet, daß man nur konsequent das innere Erleben aus den Prinzipien heraus weiter auszugestalten braucht, aus denen die Goethesche Metamorphosenlehre geflossen ist, dann kommt man auch zu einer Erfassung des seelisch-geistigen Erlebens. [4] Ich (Rudolf Steiner) wurde immer mehr (durch die Metamorphosenlehre) gewahr, wie das für die Sinne erfaßbare Naturbild zu dem hindrängt, was mir auf geistige Art anschaubar war. Blickte ich in dieser geistigen Art auf die seelische Regsamkeit des Menschen, auf Denken, Fühlen und Wollen, so gestaltete sich mir der «geistige Mensch» bis zur bildhaften Anschaulichkeit. Ich konnte nicht stehen bleiben bei den Abstraktionen, an die man gewöhnlich denkt, wenn man von Denken, Fühlen und Wollen spricht. Ich sah in diesen inneren Lebensoffenbarungen schaffende Kräfte, die den «Menschen als Geist» im Geiste vor mich hinstellten. Blickte ich dann auf die sinnliche Erscheinung des Menschen, so ergänzte sich mir diese im betrachtenden Blicke durch die Geistgestalt, die im Sinnlich-Anschaubaren waltet. Ich kam auf die sinnlich-übersinnliche Form, von der Goethe spricht, und die sich sowohl für eine wahrhaft naturgemäße wie auch für eine geistgemäße Anschauung zwischen das Sinnlich-Erfaßbare und das Geistig-Anschaubare einschiebt. [5]

Zitate:

[1]  GA 1, Seite 37   (Ausgabe 1987, 350 Seiten)
[2]  GA 1a, Seite 48   (Ausgabe 0, 0 Seiten)
[3]  GA 317, Seite 173f   (Ausgabe 1979, 200 Seiten)
[4]  GA 72, Seite 50   (Ausgabe 1990, 438 Seiten)
[5]  GA 28, Seite 98   (Ausgabe 1962, 520 Seiten)

Quellen:

GA 1:  Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. Zugleich eine Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie) (1884-1897)
GA 1a:  J.W. GOETHE: Naturwissenschaftliche Schriften. Band I (1884)
GA 28:  Mein Lebensgang (1923-1925)
GA 72:  Freiheit – Unsterblichkeit – Soziales Leben. Vom Zusammenhang des Seelisch-Geistigen mit dem Leiblichen des Menschen (1917-1918)
GA 317:  Heilpädagogischer Kurs (1924)